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Zahl der Armen in Bulgarien wächst – Was tut die Regierung in dieser Hinsicht?

3. Mai 2002

– "Wirtschaftsblatt" kommentiert die Versprechungen des jetzigen Regierungschefs Simeon II. über einen "raschen und qualitativen Wandel des Lebensstandards"

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Sofia, April, 2002, WIRTSCHAFTSBLATT, deutsch

Eine Million beträgt die Zahl der Armen in Bulgarien, wie die Weltbank kürzlich bekannt gegeben hat. Die Weltbank verwaltet viel Geld, das heißt, sie versteht sicherlich ihr Handwerk, wenn es um die Einkommen der Reichen geht. Nicht so verhält es sich aber mit der Ermittlung der Einkünfte der Armen. Man kann mit bloßem Auge erkennen, dass die Armen in Bulgarien nicht 12,8 Prozent der Bevölkerung ausmachen, sondern dass ihr Anteil viel größer ist. Das Kriterium der Weltbank lautet: Arm ist jeder, der weniger als 31 Euro im Monat ausgibt. In diesem Zusammenhang erhebt sich die Frage: Wie kann man mit einem Euro pro Tag leben, nachdem in Bulgarien ein Kilo Brot 0,35 Cent kostet, Weißkohl 0,60 Cent und der Joghurt 0,70 Cent pro Kilogramm? Und da man nicht allein von Brot, Kohl und Joghurt leben kann, muss man auch die Ausgaben für Strom und Heizung einkalkulieren, die sich bereits dem europäischen Niveau annähern.

Ich will nicht behaupten, dass Umfragen dieser Art keinen Sinn hätten, bei denen nicht die Einkünfte (diese werden bekanntlich häufig vor dem Finanzamt verheimlicht), sondern der Verbrauch als Kriterium angewandt wird. Sie wären jedoch weitaus sinnvoller, wenn sie sowohl von der Weltbank als auch von dem mit ihr eng liierten Internationalen Währungsfonds, vor allem aber von der Regierung der Republik Bulgarien berücksichtigt würden. Nun gut, man spricht von einer Million Armen. Was tut man aber für diese Menschen?

Nichts. Oder fast nichts. Um gerecht zu sein: Das Adverb "fast" ist eher in Bezug auf die internationalen Finanzinstitute angebracht. Denn die Weltbank hat zumindest Programme zur Bekämpfung der Armut aufgelegt. Die Weltbank stellt immerhin Finanzressourcen für diesen Zweck zur Verfügung. Das Nichtstun hingegen ist ein Prärogativ der bulgarischen Regierung.

Wir erinnern uns noch recht gut daran, als wäre es erst gestern gewesen: Da kam Seine Hoheit Simeon II. von Sachsen-Coburg-Gotha aus Madrid angereist, stellte sich an einem sonnenklaren Tag im April 2001 auf die grüne Wiese vor der königlichen Sommerresidenz bei Sofia und versprach dem Volk in einer Sonderproklamation einen "raschen und qualitativen Wandel im Lebensstandard", eine "sofortige und unsymbolische Erhöhung der staatlichen Renten", das "Erreichen der europäischen Standards" und eine ganze Menge anderer unverzüglicher und unsymbolischer Wohltaten. Danach gewann er selbstverständlich die Parlamentswahlen im Juni und übernahm die Regierungsverantwortung. Freilich haben sowohl Simeon II. als auch seine Regierungsmannschaft sogleich alle abgegebenen Versprechungen vergessen, eingeklemmt zwischen den unermüdlich rotierenden Teilen der Staatsmaschinerie.

Bekanntlich pflegen die Politiker überall in der Welt, wenn Wahlen herannahen, ihre eigenen Möglichkeiten und diese ihrer Teams maßlos zu übertreiben. Zuweilen scheuen sie auch vor Lügen nicht zurück. Aber eine so dreiste Lüge, wie sie dem bulgarischen Volk im vergangenen Jahr aufgetischt wurde, hat man anderswo selten gehört. Bulgarien hat weltweit einen Maßstab gesetzt dafür, wie man durch Spekulationen mit der materiellen Lage und dem Lebensstandard der Menschen Wahlen gewinnen kann.

Heute lebt der Bulgare schlechter als früher. Innerhalb von knapp einem Jahr ist die Zahl der Armen gestiegen. Die geringen Fortschritte im Kampf gegen die Armut, die im Zeitraum 1997-2000 erzielt und die von der Weltbank registriert worden waren, wurden zunichte gemacht. Die liberalisierten Marktpreise für Lebensmittel und Industriewaren gehen in die Höhe, wie übrigens auch die staatlich regulierten Strom- und Fernwärmegebühren (Gott sei Dank ist bei uns der Euro nicht eingeführt worden, sonst hätte uns die Teuerungswelle total erdrückt!). Durch neue Steuern und Gebühren wurden die Reichen entlastet, während die Armen nun tiefer in die Tasche greifen müssen. Eine spürbare Verminderung der Arbeitslosigkeit ist nicht in Sicht. Die Bevölkerungszahl des Landes schrumpft immer mehr, und dies ist nicht weiter verwunderlich angesichts der Tatsache, dass es die kinderreichen Familien am schwersten haben. Von der Armut am stärksten betroffen sind die jungen Bulgaren, die Menschen mit niedrigem Bildungsgrad und natürlich die Zigeuner.

Gibt es eine Rettung? Ja, aber nicht in Form von populistischen Parolen und Maßnahmen. Auch nicht in Form einer unüberlegten, quasikommunistischen Anhebung der Einkünfte, die unter den hiesigen Verhältnissen als sozialistisch gepriesen wird. Auch der schwachsinnige Slogan "Die Sozialpolitik hat Vorrang vor der Ökonomie!" kann keine Rettung bringen. Dasselbe gilt für den noch blödsinnigeren Spruch: "Der Staat steht über dem Markt!"

Die Rettung kann nur die Marktwirtschaft bringen. Jedoch eine richtige Marktwirtschaft und nicht eine solche, die nur den Großunternehmen und den großen Haien Entwicklungsmöglichkeiten bietet, wie dies heute in Bulgarien der Fall ist. Nötig ist eine konsequente Förderung des Mittelstandes. Die Rettung liegt auch nicht in der Erhöhung der indirekten Steuern und Gebühren, vor denen die Firmen in die Schattenwirtschaft flüchten. Wenig hilft da auch der ständige Druck auf die kleinen und mittelständischen Unternehmer, die sich gezwungen sehen, Arbeitsplätze abzubauen anstatt neue zu schaffen. Ganz zu schweigen vom leeren Geschwätz über die Notwendigkeit, das "nationale Kapital" auf Kosten der ausländischen Investitionen zu fördern (übrigens haben fast all diejenigen, die solch dummes Zeug reden, ihre "nationalen Firmen" auf den Bahamas oder auf der Isle of Man registriert. Viele von ihnen haben ihr Business mit Geldern gestartet, deren Geruch jeden wahrlich "national gesinnten" Menschen veranlassen würde, sich die Nase zuzuhalten).

Die jungen, im Westen ausgebildeten Kabinettsmitglieder müssen sich allmählich an die bulgarische Wirklichkeit gewöhnen. So wie Bulgarien fremdes Kapital und ausländische Wirtschaftserfahrungen braucht, so brauchen auch die im Westen ausgebildeten jungen Menschen einen Einblick in die bulgarischen Realitäten.

Der Chef der Kanzlei des Ministerpräsidenten, der allmächtige Stojan Ganew, der, wie man sagt, der Ideologe der populistischen Wahlplattform der heutigen Regierenden war, ist inzwischen von seiner Funktion entbunden worden. Die Armut lässt sich nicht mit Hilfe von Klatschgeschichten und Intrigen besiegen, die die Spezialität des früheren Außenministers und heutigen Geschäftsmanns sind, der auf diesem Gebiet nicht nur in Bulgarien, sondern auch im Ausland Erfahrungen gesammelt hat. Worauf warten dann die jungen Experten vom Wirtschaftsteam, denen eine populistische Denkweise wahrlich nicht vorgeworfen werden kann? Warum machen sie sich keine Gedanken darüber, dass die restriktive Finanzpolitik durch Maßnahmen zur Stimulierung der realen Wirtschaft ergänzt werden sollte? Wann beginnen die zukunftsträchtigen Bereiche der bulgarischen Wirtschaft richtig zu funktionieren? Wann werden wir endlich in der Lage sein, fremdes Kapital nicht so sehr durch Präferenzen, sondern durch ein attraktives Wirtschaftsumfeld anzulocken?

Kann ein armer Mensch eine Marktwirtschaft vom Format der in Europa existierenden aufbauen? Warum vergessen wir, wenn wir uns über die noch fehlende Einladung zum EU-Beitritt beklagen, dass - außer allem anderen - die Beschäftigten dort zehn bis zwanzig Mal mehr verdienen als wir? Aber auch der Effekt ihrer Arbeit ist um das Zehn- bis Zwanzigfache größer, weil die Wirtschaft dort keinen Maulkorb trägt, sondern mit einem Motor ausgestattet ist, der so leistungsstark ist wie der eines Mercedes.

Worauf wartet eigentlich noch unsere Regierung, um mit dem Kampf gegen die Armut Ernst zu machen? Etwa darauf, dass linke oder rechte Extremisten an die Macht kommen, die nicht viel Federlesens machen würden? (fp)