"Wir wollen zu Europa"
2. Juni 2004Bonn, 2.6.2004, DW-RADIO / Deutsch, Karen Fischer
Gerade mal ein gutes Jahrzehnt ist die Republik Kasachstan alt, die erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion unabhängig wurde. Dann allerdings fingen die vielen Probleme an: Die Schwierigkeiten mit der Demokratisierung, die wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland, die innenpolitischen Machtkämpfe. 13 Jahre nach seiner Unabhängigkeit präsentiert sich Kasachstan allerdings in erstaunlich guter Verfassung und mit Wirtschaftsdaten, die für krisengebeutelte Deutsche wie ein El Dorado klingen: Knapp 10 Prozent Wirtschaftswachstum und stetig steigende ausländische Direktinvestitionen. Karen Fischer berichtet:
Kasachstan liegt in Zentralasien, eingeklemmt zwischen Russland und China. Kulturell fühlen sich die Kasachen aber eng mit Europa verbunden, so die kasachische Botschaftsrätin Gauhar Bejssejeva:
"Wenn man die kasachische Gesellschaft analysiert, merkt man, dass sie sich eher an Europa orientiert. Weil es in Kasachstan über 100 Völkerschaften gibt, darunter auch europäische Völkerschaften, die deutschstämmigen zum Beispiel, Russen, Ukrainer, Weißrussen, die Kulturen, Sprachen und Traditionen haben sich vermischt, und jetzt haben wir eine Gesellschaft, die sich mehr nach Europa orientiert und nach Westen sieht."
Das Fernziel Kasachstans: Nicht nur über den Zaun nach Europa rüberschauen, sondern richtig dazugehören zum europäischen Club.
Bejssejeva:
"Wir wollen zu Europa, wir wollen nirgendwo hin als zu Europa."Doch dafür ist die Zeit noch lange nicht reif, und daher setzt Kasachstan zunächst auf enge Zusammenarbeit. Seit 1999 besteht ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit der EU, darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von bilateralen Abkommen. Allein mit Deutschland existieren mehr als 20 Verträge. Nach der EU-Osterweiterung vom 1. Mai sind die Grenzen Europas ein ganzes Stück näher an Kasachstan herangerückt. Für das Land eine Chance, findet Botschaftsrätin Gauhar Bejssejeva:
"Die neuen EU-Mitgliedsstaaten sind unsere ehemaligen Partner, bilaterale Partner, wir haben genug Erfahrung in der Zusammenarbeit mit diesem Partner. Wir haben überhaupt keine Angst, wir befürchten nicht, dass die EU so ein Monster werden wird, das uns negativ beeinflusst."
Doch im Zeitalter der Globalisierung reicht eine enge Bindung an Europa nicht. Kasachstan verfolgt deshalb eine multi-vektorale Außenpolitik, will heißen, das Land versucht, auf möglichst vielen Hochzeiten zu tanzen: Die zentralasiatische Wirtschaftsgemeinschaft, die Handelserleichterungen mit den Nachbarländern festschreibt, die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, bei der es vor allem um die Lösung von Grenzfragen mit China geht, mehrere Abkommen und Verträge mit Russland, ein NATO-Partnerschaftsvertrag.
Für die Europäer stehen in den Beziehungen zu Kasachstan wirtschaftliche Interessen ganz weit oben. Das hat vor allem einen Grund: Erdöl. Dementsprechend ist es vor allem der Energiesektor, der das Wirtschaftswachstum in Kasachstan fast in den zweistelligen Bereich treibt, einige Experten sprechen bereits von einer Überhitzung der kasachischen Wirtschaft, die von den hohen Erdöl-Preisen noch beschleunigt wird. Das Risiko: Die Konzentration auf den Energie-Sektor schafft natürlich auch Abhängigkeiten von den Preisen auf dem Weltmarkt. Doch auch für Zeiten niedriger Ölpreise ist inzwischen gesorgt:
Bejssejeva:
"Wir haben einen nationalen Fonds geschaffen, in den die Gewinne aus dem Erdöl fließen, damit wir einen Sicherheitsvorrat haben, für die Zeit, wenn die Preise fallen. Man muss sich von allen Seiten versichern."Was die Demokratie-Entwicklung in Kasachstan betrifft, hinkt diese hinter den wirtschaftlichen Erfolgen der letzten Jahre her. Seit 1995 regiert Präsident Nursultan Nasarbajew das Land, immer wieder von vielen NGOs wegen seines autokratischen Führungsstils kritisiert - vereinfacht auch durch die verfassungsrechtlich festgeschriebene starke Stellung des Präsidenten. Und nach Jahrzehnten sowjetischer Vorherrschaft hat sich auch bei den Bürgern noch kein echtes Demokratieverständnis durchgesetzt, so Gauhar Bejssejeva:
"Weil Kasachstan noch ein sehr junges Land ist, ist die Bevölkerung noch nicht so stark politisch geprägt. Wenn zum Beispiel bei jedem Mitglied der Gesellschaft das Verständnis entsteht, dass seine Stimme eine Rolle spielt, dass in einer gemeinsamen Entscheidung sein kleiner Anteil steckt, nur dann bekommen wir eine ganz normale demokratische Gesellschaft. Aber das muss man lernen, und das ist ein langer Weg."
Trotzdem: Botschaftsrätin Gauhar Bejssejeva blickt mit Stolz auf das zurück, was ihr Land seit 1991 alles erreicht hat. Auf die Frage, ob sie diese Entwicklung damals für möglich gehalten habe, kommt die Antwort prompt:
Bejssejeva:
"Nein, ich kann ganz ehrlich sagen nein. Vor 13 Jahren war es unvorstellbar, dass so was in so kurzer Zeit passieren kann." (lr)