"Wir betreten Neuland im Kosovo"
5. Oktober 2004Anzeige
Bonn, 28.9.2004, DW-Radio / Albanisch, Adelheid Feilcke-Tiemann
Frage:
Sie haben als Präsident der Südosteuropa-Gesellschaft ein Podium über "Kosovo in 2005 - a year of decision?" geleitet. Der Blick in die Zukunft Kosovos ist getrübt durch die blutigen Unruhen vom März diesen Jahres. Welche Lehren ziehen Sie aus den Ereignissen im März und der Diskussion um die Kosovo-Mission insgesamt?Erler:
Ich möchte das in einen größeren Kontext stellen: wir betreten Neuland im Kosovo, obwohl die Sache auch schon fünf Jahre dauert. Wir haben immer noch nicht genügend klare Erfahrungen mit diesen Nation-Building-Prozessen. In Bosnien- Herzegowina dauert das seit 1995. Und es war wichtig, und es war vielleicht die einzige gute Seite an einem tragischen Ereignis, dass jetzt zwei Dinge passiert sind nach den blutigen Unruhen am 17. und 18. März dieses Jahres in Prizren: Das eine ist, die Weltöffentlichkeit beschäftigt sich wieder ernsthaft mit dem Westbalkan und besonders auch mit Kosovo und ist regelrecht aufgerüttelt worden, weil die bisherigen, sage ich mal, ruhigen Bahnen, die man an sich erwartet hat, offensichtlich nicht mehr gelten können, nicht mehr funktionieren und man jetzt auf einen ernsthaften Weg gestoßen wurde, andere Antworten zu geben, zum Teil auch die Prozesse zu beschleunigen und sich wieder darüber klar zu werden, dass es noch keinerlei Sicherheit gibt bei diesen Nation-Building-Sicherheitsprozessen, dass im Grunde genommen noch viele Lektionen da vor uns stehen. Und das gilt auch für die anderen, ob das Afghanistan oder Irak ist, wo uns das alles noch bevorsteht. Und der Balkan ist sozusagen wie ein Pilotprojekt auf diesem Feld.Frage
: Deutschland hat bereits begonnen, bezüglich der Bundeswehr-Mission, aber auch hinsichtlich der gesamten Bewertung der Mission Korrekturen vorzunehmen. Welches sind Ihrer Meinung nach die "anderen Antworten", die nötig sind?Erler:
Also, das betrifft zum Teil den technischen Bereich, die Bundeswehr war bisher überhaupt nicht vorbereitet auf so eine Situation, wo eine Zusammenrottung von Menschen ihren Einsatz verhindert. Es klingt komisch, aber auf diesen Fall ist die ganze Internationale Gemeinschaft im Kosovo nicht vorbereitet gewesen. Eigentlich ist es ja eine Polizeiaufgabe, z.B. eine Straße freizumachen oder einen Ausgang von einem Camp freizumachen. Aber das hat nicht funktioniert. Und die Bundesregierung hat schnell jetzt Schlüsse daraus gezogen, die auch Bundestagsbeschlüsse dann nach sich gezogen haben. Das geht so weit, dass also jetzt die deutschen Soldaten im Kosovo mit allen Ausrüstungen versehen sind, die man braucht, um z. B. eine Massendemonstration aufzulösen, oder sich den Weg mit friedlichen, nicht letalen Mitteln freizumachen, z. B. auch unter Benutzung von Reizgas und ähnlichen Mitteln, aber auch durch Wasserwerfer, durch Schilde und durch ähnliche, eher polizeiliche Ausrüstung. Und das ist genau so ein Punkt, den ich eben meinte: Das ist nicht voraussehbar gewesen, dass eine solche Situation kommt....Frage:
Neben diesen Sicherheitsaspekten wird vermehrt auch über die politische Struktur gesprochen. Immer häufiger wird das vom deutschen UN-Verwalter Michael Steiner entwickelte Konzept "Standards vor Status" in Frage gestellt. Wie ist da Ihre Position als Politiker und Kenner der Region?Erler:
Also, eins ist völlig klar: dass der bisherige Ablaufplan, der da ist, in dieser Form nicht gehalten werden kann. Also, man hat sich hier auf sehr lange Fristen eingelassen. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen hatte im letzten Jahr angekündigt, wir werden einen Comprehensive Report, also einen umfassenden Bericht über die Lage der Menschrechte, über die Lage der Standards im Kosovo im Jahr 2005 vorlegen. Und auf der Basis von diesem Bericht werden wir dann Leute beauftragen, einen Beschluss vorzubereiten, wie denn weiter mit dem Status umgehen, das ist eine Perspektive, die Ungeduld wachgerufen hat in der kosovarischen Bevölkerung. Dort ist man fest davon überzeugt, dass an der Lösung der Statusfrage im Grunde genommen sehr viel hängt, auch im ökonomischen Bereich, auch den Fragen der Auslandsinvestitionen, bei der Sicherheit der Leute, wie es weitergeht. Und hier ist die feste Überzeugung, dass also ohne eine kürzere Perspektive für eine Antwort auf diese Statusfrage eher die Situation noch prekärer wird und man womöglich sogar mit einer Wiederholung von solchen Ereignissen wie im März rechnen muss. Nun muss man natürlich sehr aufpassen, dass man sich hier nicht erpressen lässt. Es kann ja nicht sein, dass diejenigen, die Gewalt anwenden, die Kirchen und Häuser abbrennen und auch keine Zurückhaltung bei der Gewaltanwendung gegen Menschen zeigen, dass die nachher noch belohnt werden dadurch, dass sie ihre Ziele schneller erreichen, das kann nicht Sinn der Sache sein. Aber es hängt eben sehr, sehr viel für die gesamte Region ab von der Lösung des Themas Kosovo. Also da hängt auch die Frage Serbien- Montenegro dran, da hängt die Zukunft, die stabile Zukunft von Bosnien-Herzegowina dran, selbst Mazedonien ist davon berührt. Und insofern können wir uns gar nicht leisten, etwa bei der Lösung dieser Frage Kosovo, ganz langfristige Perspektiven anzupeilen und zwischendurch uns womöglich auf andere üble Überraschungen vorbereiten zu müssen, das geht nicht.Frage:
Die Region drängt, die internationale Gemeinschaft schiebt es eher so ein bisschen weg. Wie stellen Sie sich persönlich dort den goldenen Weg vor? Was könnte eine Lösung sein, den Menschen dort eine Perspektive und eine Sicherheit zu geben und gleichzeitig die Interessen der unterschiedlichen Seiten irgendwie zu befrieden, auszugleichen?Erler:
Also, ich glaube, dass es keine Patentlösung gibt. Aber ich glaube, man kann zwei Dinge jetzt enger miteinander verzahnen. Wir können nicht diese Abfolge machen: erst Standards dann Status, wir müssen beides sozusagen wie ein Paket enger zusammen schnüren, d. h. aber auch, sehr, sehr deutliche Anforderungen an die albanischen Autoritäten im Kosovo zu stellen, im Prinzip der Übernahme eigener Verantwortung klare Kriterien formulieren und sagen: Nur, wenn ihr uns Sicherheit gebt, dass diese Kriterien jetzt erfüllt werden (da ist natürlich die Sicherheit der Minderheiten das vordringlichste Problem von allen), sind wir bereit, eine Beschleunigung auch bei der Statusfrage vorzunehmen. Das kann funktionieren, das ist nicht ohne Risiko, wir haben eine Dynamisierung auch der internationalen Diskussion über Kosovo. Die Scheinwerfer waren ja schon alle abgeschaltet in Bezug auf den Westbalkan. Und so makaber es ist, diese tragischen Ereignisse vom März, die haben das wieder verändertund wir haben jetzt in Deutschland und nicht nur in Deutschland, in ganz Europa eine sehr substantielle Diskussion über das weitere Vorgehen im Kosovo. Und der Weg ist eine stärkere Koppelung der Verbesserung der Standards, d. h. also der Beachtung von Menschenrechten, von Schutzaufgaben, was die Minderheiten angeht, auch im Grunde genommen von Übernahme von mehr Verantwortung bei den kosovarischen Autoritäten, mit einer Bereitschaft der Internationalen Gemeinschaft, diese Statusrage früher zu klären, als es ursprünglich vorgesehen war.
Frage
: Am 23. Oktober finden im Kosovo Parlamentswahlen statt. Und es ist sicherlich nicht übertrieben zu sagen, dass diese Wahlen allgemein als ein großer Test angesehen werden. Eines der Grundprobleme ist die Teilnahme der Serben, der serbischen Bevölkerung an den Wahlen. Im Moment sieht es dafür nicht gut aus, auch wenn international sehr auf eine Teilnahme gedrängt wird. Wie schätzen Sie diesbezüglich die Lage ein, was sollte passieren?Erler:
Also, ich hoffe noch sehr, dass wir die serbische Seite davon überzeugen können, dass ein Boykott dieser Wahl keinen Sinn macht. Und der Schlüssel dafür liegt natürlich in Belgrad. Das ist im Grunde genommen ein beklagenswerter Zustand, dass wir eigentlich von einem Zustand der Entmündigung der serbischen Minderheit im Kosovo ausgehen müssen. Das ist noch ein Relikt aus alten Zeiten und wir müssen incentives geben dafür, dass im Grunde genommen ein Selbstbewusstsein, auch was die eigenen Interessen angeht, bei den kosovarischen Serben endlich entsteht. Auf der anderen Seite muss der Druck auf Belgrad erhöht werden, hier zu sehen, welche Bedeutung es hat, dass hier jetzt kein Boykott passiert. Ich glaube, dass ein Boykott dazu führen wird, dass rein von der Psychologie her die Rahmenbedingungen für ähnliche Ausschreitungen wie im März sich eher verlängern werden, anstatt, dass wir sie beenden. Belgrad hat hier eine Mitverantwortung auch für das Schicksal der eigenen Landsleute im Kosovo. Und ein Boykott ist ein miserables Zeichen für die Kooperationsfähigkeit und auch das Verständnis von diesem Konsolidierungsprozess im Kosovo. Und deswegen wäre es außerordentlich wichtig aus meiner Sicht, vielleicht noch fast wichtiger als das Ergebnis der Wahlen, dass wir hier keine Isolierung und keine Sonderrolle der Serben haben, sondern dass sie versuchen, sich selbst auch in die Verantwortung zu begeben. Das ist für die Zukunft dieses Landes wichtig. (fp)Anzeige