Wim Wenders: Kino und die "Kunst, verloren zu sein"
8. August 2025Für Wim Wenders bedeutet der Zustand des Verlorenseins kein Versagen, sondern eine Form der Glückseligkeit. "Wenn man verloren ist, gibt man sich selbst völlig auf und ist da“, sagt er der DW. Und seit mehr als fünf Jahrzehnten lädt der deutsche Filmemacher sein Publikum dazu ein - sich in seinen Filmen zu verlieren, die durch unbekannte Landschaften und stille, emotionale Räume treiben.
Anlässlich Wenders' 80. Geburtstag im August präsentiert die Bundeskunsthalle in Bonn eine große Retrospektive, die sein umfangreiches Werk - darunter Filme, Fotografien, Radierungen und Schriften - zeigt, das sich um das immerwährende Thema dreht, was es bedeutet, sich durch die Welt zu bewegen.
Wim Wenders: Ein Wanderer, geboren zwischen Ruinen
Für Wenders ging es bei der Bewegung nie nur um die Strecke - es ging um Entdeckungen. Geboren kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 in Düsseldorf, wuchs er in einer Stadt auf, die fast vollständig in Trümmern lag. Bei der Eröffnung der Retrospektive erinnerte sich Wenders, der sich selbst oft als Reisender bezeichnet, an den surrealen Kontrast zwischen dem Nachkriegsdeutschland und den Bildern ferner Orte, die er im Lexikon seines Großvaters und den Zeitungen seines Vaters sah.
"Das war eine gewaltige Entdeckung für mich und die treibende Kraft meines Lebens. Die Welt war besser. Ich wollte immer alles darüber wissen … Wäre ich zu Hause geblieben, wäre ich jetzt nicht hier", sagt er der DW. Diese kindliche Sehnsucht, mehr zu sehen, weiter zu reisen, legte den Grundstein für ein kreatives Leben, das sich seitdem über Kontinente und Genres erstreckt.
Wenders' Roadmovies: Menschen auf der Suche
Wenders begann in den 1970er-Jahren mit dem Filmemachen und entwickelte sich neben seinen Landsleuten Werner Herzog und Rainer Werner Fassbinder zu einer Schlüsselfigur des Neuen Deutschen Films. Seine Roadmovie-Trilogie - "Alice in den Städten", "Falsche Bewegung" und "Im Lauf der Zeit" - thematisierte eines seiner zentralen Themen: Menschen in Bewegung, emotional und körperlich, auf der Suche nach Verbundenheit oder Zugehörigkeit.
Doch erst "Paris, Texas" (1984), eine eindringliche Auseinandersetzung mit Verlust und Erlösung im amerikanischen Südwesten, begründete seinen internationalen Ruf. Der Film handelt von einem Mann, der ohne Erinnerung aus der Wüste kommt und sich aufmacht, wieder Kontakt zu seinem kleinen Sohn aufzunehmen. Der Film gilt heute als Klassiker und brachte Wenders sowohl die Goldene Palme in Cannes als auch einen BAFTA-Preis für die beste Regie ein.
In "Der Himmel über Berlin" aus dem Jahr 1987 schweben Engel, ein beliebtes Motiv von Wenders, über dem geteilten Nachkriegs-Berlin und beobachten das Leben unter sich - bis sich einer von ihnen in die Welt der Menschen verliebt. Berichten zufolge diente der Film als Inspiration für "Stadt der Engel" aus dem Jahr 1998 mit Meg Ryan und Nicholas Cage in den Hauptrollen - einige Kritiker fanden jedoch, dass er Wenders‘ Original nicht gerecht wurde.
Das Spätwerk
Das vor zwei Jahren erschienene "Perfect Days" ist eine ruhige Charakterstudie in Tokio und folgt einem Hausmeister, dessen einfache Routinen Freude, Isolation und die Heiligkeit des Alltags offenbaren. Hauptdarsteller Koji Yakusho wurde dafür in Cannes als Bester Schauspieler ausgezeichnet und der Film außerdem als Japans Oscar-Beitrag 2024 ausgewählt.
"Anselm - Das Rauschen der Zeit" (2023) ist Wenders‘ 3D-Dokumentation über den gleichaltrigen deutschen Maler und Bildhauer Anselm Kiefer.
Buena Vista Social Club: Musikalische (Wieder-)Entdeckung
"Jeder Film ist eine Reise", sagte Wenders einmal, "nicht nur physisch, sondern eine Reise zum Verständnis von etwas." Und was wäre eine Reise ohne Soundtrack? Musik hat in Wenders Werken schon immer eine entscheidende Rolle gespielt. Ein bemerkenswertes Beispiel ist der 1999 für den Oscar nominierte Film "Buena Vista Social Club", in dem Wenders den Weg alternder traditioneller Son-Cubano-Musiker aus der Versenkung zum Ruhm schildert. Das gleichnamige, mit einem Grammy ausgezeichnete Album verkaufte sich nicht nur weltweit mehr als acht Millionen Mal, sondern weckte auch erneut das globale Interesse an traditioneller kubanischer Musik. Wenders hat auch Musikvideos gedreht, unter anderem für "Stay (Far Away, So Close!)" von U2, das die Band zum Soundtrack seines gleichnamigen Films, "In weiter Ferne, so nah!", besteuerte.
Neben seiner Filmkarriere ist Wenders seit langem ein produktiver Fotograf, bekannt für seine eindringlichen Bilder verlassener Orte, übersehener Winkel und langer, stiller Straßen. Sein fotografischer Blick spiegelt seinen filmischen wider: fokussiert auf Leere, Stille und die Würde des Raumes. Wenders' Reisen gehen derweil weiter. Neben China, das er schon mehrmals besucht hat, hat er Indien endlich auf seiner Wunschliste abhaken können. "Ich bin vier Wochen lang durch Indien gereist. Patagonien, einen meiner ältesten Träume, habe ich noch nicht besucht … Ich war nie in der Antarktis und am Nordpol. Ich habe kalte Zonen gemieden. Ich kenne alle warmen Zonen des Planeten, aber nicht alle kalten“, scherzt er gegenüber der DW.
Die Kunst des Sehens durch das Sich-Verirren
Wenders erinnert sich auch fast wehmütig an die vordigitale Ära - und daran, wie er sich in neuen Städten absichtlich verirrte. "In allen Großstädten der Welt habe ich versucht, mich zu verlaufen, als ich das erste Mal dort war. Und als es mir gelang, mich zu verlaufen, glaubte ich, dass ich die Stadt wirklich verstanden habe - aber erst dann."
Mit GPS auf jedem Smartphone und überall verfügbaren Karten kommt es selten vor, dass man sich wirklich verirrt, was es für Wenders umso wichtiger macht. "Wenn man sich verirrt hat, sieht man. Wenn man seine Karte hat und den Weg kennt, sieht man nicht so viel, wie wenn man sich verirrt hat.“ In der Ausstellung der Bundeskunsthalle muss man kein Wenders-Filmfan sein, um sich fesseln zu lassen. Seine Werke sprechen jeden an, der sich schon einmal fehl am Platz gefühlt oder sich nach mehr gesehnt hat. Seine Geschichten erinnern uns daran, dass wir, wenn wir verloren sind, vielleicht auf neue Sichtweisen stoßen - nicht nur auf die Welt, sondern auch auf uns selbst.
"W.I.M. Die Kunst des Sehens" läuft in der Bonner Bundeskunsthalle bis zum 11. Januar 2026.
Aus dem Englischen adaptiert von Katharina Abel.