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PolitikUkraine

Wie Zivilisten aus der Ostukraine evakuiert werden

3. Juli 2025

Die Front nähert sich der ukrainischen Stadt Kostjantyniwka, die von der russischen Armee zunehmend bombardiert wird. Die DW hat Polizisten der Gruppe "Weißer Engel" begleitet, die Zivilisten von dort herausholen.

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Polizist Dmytro führt einem blinden Mann aus seinem Haus heraus
Polizist Dmytro begleitet einen blinden Mann zu einem FahrzeugBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Über der einsamen Landstraße hängen riesige Netze. Die ukrainische Armee hat sie aufgespannt, um den Verkehr vor Drohnen zu schützen - russischen, mit kleinen Sprengköpfen bestückten Kamikazedrohnen, deren Propeller sich darin verheddern sollen, anstatt auf der darunterliegenden Straße zu explodieren. Der Weg nach Kostjantyniwka führt durch viele solcher Korridore. Wir sind mit Polizisten der Evakuierungsgruppe "Weißer Engel" unterwegs. Hennadij Judin leitet das Team in der Region Donezk und sitzt am Steuer eines Panzerwagens mit eingebautem Drohnenschutz. Zudem sind die Polizisten mit Pumpguns bewaffnet, um sich gegen Russlands Drohnen verteidigen zu können.

Hennadij Judin sitzt am Steuer eines Panzerwagens
Hennadij Judin leitet die Evakuierung in der Region DonezkBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Jeden Tag evakuieren die Polizisten Zivilisten aus Kostjantyniwka. Von den ehemals 67.000 Einwohnern leben hier nach Angaben der Verwaltung noch etwa 8500. Die russischen Angriffe sorgen beinahe täglich für Tote und Verletzte. Deshalb fordern die Behörden der Ukraine die Zivilbevölkerung auf, das Gebiet zu verlassen.

Menschenleere Straßen

Ausgebrannte Autos säumen die Straßenränder, mitten in der Stadt stehen Panzer- und Stacheldrahtsperren. Viele Häuser tragen die Spuren russischen Beschusses, während in ihren Gärten die Blumen blühen. Vor den Häusern liegen Müllsäcke, die nie abgeholt wurden. Die Polizisten gehen durch die Stadt und suchen eine bestimmte Straße. Es ist niemand da, den man fragen könnte, denn die Menschen trauen sich kaum noch nach draußen. Schließlich finden die Polizisten ihr Ziel: Hier lebt ein blinder älterer Mann.

Eine Straße ist von allen Seiten gesäumt von Anti-Drohnen-Netzen
Anti-Drohnen-Netze über einer Landstraße in der OstukraineBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

"Keine Ahnung, ich sehe nichts", sagt er verwirrt zu den Polizisten, die seinen Pass suchen. Schließlich nimmt Polizist Dmytro den Blinden an die Hand und führt ihn aus dem Haus. Unter den Füßen knirschen Glasscherben und Patronenhülsen. "Wir bringen dich jetzt an einen sicheren Ort", sagt Dmytro und setzt den Mann ins Auto.

Auch die nächste Adresse lässt sich nicht gleich finden. Die Polizei klopft hartnäckig an Türen und Fenstern, doch niemand öffnet. Tags zuvor hatten die zwei Bewohnerinnen des Hauses darum gebeten, sie zu evakuieren. Die Polizei vermutet, dass sie sich inzwischen selbst auf den Weg gemacht haben.

Blick über die Landschaft auf die Halden von Torezk vom Süden Kostjantyniwkas aus, im Vordergrund steht ein Hund
Blick auf die Schutthalden von Torezk vom Süden Kostjantyniwkas ausBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Laut Hennadij Judin wollen immer mehr Menschen Kostjantyniwka verlassen. "Die Leute haben zunehmend Angst vor Bomben und Drohnen. Sie sehen, wie ihre Häuser zerstört werden und auch kein Schutzkeller mehr hilft", so der Polizist.

Russen rücken weiter vor

Die russische Armee versucht, Kostjantyniwka einzukreisen. Sie rückt aus mehreren Richtungen auf die Stadt vor, auch aus Torezk. Die Schutthalden des Ortes kann man vom südlichen Stadtrand von Kostjantyniwka aus sehen. Hier lebt eine ältere Frau, die ebenfalls darum gebeten hat, sie zu evakuieren.

Die Polizei findet sie mit einem Verwandten vor. Doch plötzlich will sie nicht mehr weg, sie klagt über Bluthochdruck und Erbrechen. "In einer halben Stunde bist du im Krankenhaus", beruhigt sie die Polizistin Nastja und sagt: "Ein Krankenwagen schafft es nicht mehr bis hierher."

Daraufhin bittet die Frau die Polizei, später noch einmal wiederzukommen. Nastja notiert sich geduldig ihre Handynummer, unterdessen redet ihr Kollege auf die Frau ein: "Sie sehen doch, wie die Lage hier ist. Hier fliegen Drohnen."

Ein Polizist steht neben seinem Fahrzeug und Stacheldraht. Er spricht mit einer vorbeikommenden Frau und rät ihr, Kostjantyniwka zu verlassen
Ein Polizist rät einer Frau, Kostjantyniwka zu verlassenBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Für die "Weißen Engel" ist das keine ungewöhnliche Situation. Das Team evakuiert seit der russischen Offensive auf Awdijiwka Zivilisten und ist für die ganze Region Donezk zuständig. Erst gestern hätten sie in Pokrowsk zwei Leichen abgeholt, erzählt Hennadij Judin. Einer der Toten musste aus seinem Auto geborgen werden, das von einer Drohne getroffen worden war. Der andere Mann war zuhause gestorben. Seine Tochter hatte die Polizei gebeten, ihren Vater zu holen, um ihn würdig begraben zu können. In Kostjantyniwka werden neuerdings Tote direkt an Straßen begraben. Judin hat schon 22 solcher Gräber gezählt und hofft, dass die Überreste der Toten eines Tages umgebettet werden.

Jeder Einsatz ist gefährlich. Als die Polizisten eine der Leichen zum Auto trugen, schlug in der Nähe eine Drohne ein, ein Splitter streifte Dmytros Knie. Die Wunde wurde im Krankenhaus genäht und heute ist er schon wieder im Einsatz.

"Es wird immer schlimmer"

Auf dem Weg zur nächsten Adresse stoßen wir auf einen liegengebliebenen Bus, daneben liegt ein Strauß frischer Rosen. Vor wenigen Tagen starb hier ein Busfahrer, sein Beifahrer wurde verletzt. Seitdem verkehren in der Stadt keine Busse mehr.

Die Polizisten Hennadij und Dmytro trinken an einer Bank vor einem Haus Tee mit Walerij aus Kostjantyniwka
Die Polizisten Hennadij (l.) und Dmytro (r.) trinken Tee mit Walerij aus KostjantyniwkaBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Am östlichen Stadtrand von Kostjantyniwka sitzt ein älterer Mann namens Viktor auf gepackten Koffern. Auf das Summen einer fliegenden Drohne reagiert er gelassen. "Das ist unsere", glaubt er. Während er seine Taschen zum Auto trägt, werden seine Nachbarn, ein Rentnerpaar, auf die Polizei aufmerksam. Auch das Ehepaar will Kostjantyniwka bald verlassen. "Wir dachten, es würde sich etwas ändern, aber es wird immer schlimmer", seufzt die Frau, die Natalja heißt. Der Zaun und die Fenster ihres Hauses wurden beim jüngsten Beschuss beschädigt. Es gibt weder Strom noch Wasser, und der Mobilfunk funktioniert nur selten. "Seien Sie vorsichtig, ducken Sie sich unter die Bäume", rät der Mann namens Walerij den Polizisten.

Verwechslung mit Besatzern

Als nächstes fahren wir zu einer Adresse, wo eine einsame ältere Frau wohnt. Gebeugt geht sie langsam aus ihrem Haus auf die Veranda. Die Polizisten helfen ihr, die Taschen zu tragen, und schauen, was wirklich nötig ist, denn im Auto ist wenig Platz. "Menschen haben Vorrang", sagt einer von ihnen.

Ein Polizist hilft einer älteren gebeugten Frau, ihr Haus in Kostjantyniwka zu verlassen
Ein Polizist hilft einer älteren Frau, ihr Haus in Kostjantyniwka zu verlassenBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Im Auto fragt die Frau die Polizisten, ob sie aus Moskau kämen. Sie dachte offenbar, die Russen seien in die Stadt vorgedrungen. "Ja", scherzt Dmytro und fügt hinzu: "Deshalb haben wir so lange gebraucht, um zu Ihnen durchzukommen." Doch keinem der Passagiere ist zum Lachen zumute.

Unser Auto fährt weiter bis in die Innenstadt. Wir passieren das zerstörte Bahnhofsgebäude. Auf einem Teil der Wände ist noch die Aufschrift auf Englisch zu sehen: "Wir verlangen nicht viel, wir brauchen nur Artillerie und Bomber, den Rest erledigen wir selbst."

"Hinaus in eine ungewisse Welt"

Nahe des Bahnhofs wartet ein Mann mittleren Alters mit einem großen, verängstigten Hund auf das Evakuierungsteam. Der Mann heißt Serhij. In der Wohnung, zwischen den Taschen, sitzt und weint seine Schwester Tetjana. Sie will nicht weg. "Auf geht's!", sagt Serhij ungeduldig zu ihr. Schließlich nimmt Tetjana nach gutem Zureden der Polizei ihre gepackte Tasche und geht zum Auto.

Tetjana verlässt durch die Tür ein durch Beschuss beschädigtes Wohnhaus in Kostjantyniwka
Tetjana verlässt ein durch Beschuss beschädigtes Wohnhaus in KostjantyniwkaBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

"Manche Menschen wollen nicht evakuiert werden, weil sie sich vor einer ungewissen Zukunft fürchten", erläutert Hennadij verständnisvoll und betont: "Diese Angst ist stärker als die vor dem Tod, und so bleiben manche Menschen trotz Beschuss hier."

Die Zukunft der Evakuierten ist in der Tat ungewiss. Die Polizisten übergeben die Menschen freiwilligen Helfern, die sie in eine Notunterkunft in Pawlohrad im Gebiet Dnipropetrowsk bringen. Dort werden sie bei der Beantragung sozialer Leistungen unterstützt, die aber für die Miete einer Wohnung in den relativ sicheren Städten der Region nicht ausreichen. "Ich ziehe hinaus in eine ungewisse Welt", sagt ein Evakuierter namens Viktor.

Ruine des zerstörten Bahnhofsgebäudes in Kostjantyniwka
Zerstörtes Bahnhofsgebäude in KostjantyniwkaBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Unterdessen sind die "Weißen Engel" schon wieder auf dem Weg nach Kostjantyniwka. Zwei weitere Frauen warten, um in Sicherheit gebracht zu werden, in eine Sicherheit weit weg von dem, was einmal ihre Heimat war. 

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk