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Wie lässt sich sexualisierte Gewalt gegen Kinder verhindern?

Franziska Wüst
Veröffentlicht 31. Januar 2025Zuletzt aktualisiert 31. Januar 2025

In Deutschland werden jeden Tag mehr als 50 Kinder Opfer sexueller Gewalt. Ein neues Gesetz soll die Prävention gegen Missbrauch verbessern. Wie können Kinder gestärkt werden?

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Junges Mädchen mit Kapuze hält sich die Hand vor das rechte Auge
Um ihre Opfer zum Schweigen zu bringen, manipulieren die Täter diese oft psychischBild: half point/Pond5 Images/IMAGO

Wenige Wochen vor der vorgezogenen Bundestagswahl am 23. Februar hat der Deutsche Bundestag ein Gesetz zur "Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Minderjährigen" gebilligt. Zuvor hatten sich Sozialdemokraten (SPD), Grüne, die konservative Union aus CDU/CSU und die liberale FDP nach langen Verhandlungen auf den Entwurf geeinigt.

Das Gesetz konzentriert sich - neben der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen - auf mehr Präventionsarbeit gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Betroffene sollen außerdem bei der Aufarbeitung des Missbrauchs unterstützt werden. So sollen sie den Anspruch erhalten, ihre Akten einzusehen, etwa bei Jugendämtern.

Auch Lena Jensen hätte das geholfen. Die 31-Jährige sitzt auf ihrem Sofa. Über das, was ihr passiert ist, spricht sie heute ruhig und sachlich. Das war nicht immer so. Im Alter von zwei bis sechs Jahren wurde Lena Jensen sexuell missbraucht und dabei gefilmt: "Ich hätte mir vor allem mehr Möglichkeiten gewünscht den Fall wirklich aufzuklären, denn die Täter laufen heute immer noch frei rum."

Eine junge Frau sitzt auf einem Sofa und blickt bestimmt in die Kamera
Lena Jensen wurde in ihrer Kindheit missbraucht und spricht heute öffentlich darüber, um aufzuklärenBild: Franziska Wüst/DW

Es gibt bereits das Amt der "Unabhängigen Bundesbeauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs". Es soll nun aufgewertet und gesetzlich verankert werden. Dazu gehören ein Betroffenenrat sowie eine Aufarbeitungskommission.

Der oder die zuständige Missbrauchsbeauftragte soll im Bundestag regelmäßig über das Ausmaß sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche berichten, über Prävention, Unterstützung, Forschung und Aufarbeitung. Die derzeitige Beauftragte Kerstin Claus hat eine neue Forschungsstelle zu sexualisierter Gewalt an Kindern eröffnet.

Wie verbreitet ist sexualisierte Gewalt an Kindern in Deutschland?

Seit Jahren steigen die Zahlen in Deutschland: Nach Angaben des Bundeskriminalamts wurden im Jahr 2023 jeden Tag 54 Kinder Opfer von Missbrauch, ein Anstieg von 5,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Bundesinnenministerin Nancy Faeser sagte: "Die meisten Opfer kannten die Täter, weil es Familienangehörige sind, Freunde oder Bekannte. Hinzuschauen und zu handeln, wann immer Gefahren für Kinder drohen - das ist eine zentrale Aufgabe des Staates, aber auch unserer Gesellschaft insgesamt."

Unklar ist, ob die Zahlen auch deshalb steigen, weil durch mehr Aufklärung mehr Fälle angezeigt werden. Experten gehen davon aus, dass die Zahl der nicht polizeilich bekannten Fälle, das sogenannte Dunkelfeld, noch deutlich größer ist. Auffällig ist ein deutlicher Anstieg bei der Verbreitung sogenannter kinder- und jugendpornografischer Inhalte - Fotos und Filme von missbrauchten Kindern. Kindern wie Lena.

Manipulation durch die Täter

Weil diejenigen, die ihr das angetan haben, sie manipulierten und ihr Angst machten, schwieg Lena Jensen lange Zeit: "Als Kind dachte ich immer, wenn ich darüber jetzt spreche, dann passiert den Personen, die ich liebe, etwas Schlechtes."           

Die Manipulation und Verunsicherung ihrer Opfer sei eine gängige Praxis von Sexualstraftätern, sagt Lena Hensen von der Organisation "Strohhalm e.V." in Berlin, die Beratungen zur Prävention anbietet: "Durch eine besonders enge Anbindung und Beziehung verhindern die Täter und Täterinnen, dass die Kinder emotionalen Kontakt zu anderen Personen aufbauen können. Sie sprechen den Kindern die eigenen Gefühle und Wahrnehmungen ab und manipulieren sie so stetig."

Was sollten Eltern ihren Kindern vermitteln?

Beraterin Hensen setzt sich für mehr Prävention beim Thema Kindesmissbrauch ein. Als Basis dafür, sagt sie, müsse das Thema in der Gesellschaft enttabuisiert und "besprechbar" gemacht werden.

Kinder müssen für einen besseren Schutz von klein auf gestärkt werden, betont Hensen: "Kinder, die mit der Haltung aufwachsen, selbst über ihren Körper entscheiden zu dürfen, sind eher in der Lage, eigene Grenzen und Grenzverletzungen wahrzunehmen und zu verbalisieren." Essenziell sei es, Kindern den Unterschied zwischen "guten und schlechten Geheimnissen" zu erklären, zwischen "jemanden verpetzen und Hilfe holen" - und ihnen Schuldgefühle zu nehmen.

Was kann die Kita tun?

Schulen und Kitas könnten eine zentrale Rolle spielen, indem sie Kurse zur "sexuellen Bildung" anbieten. Sie sollten Kindern erklären, nach welchen Regeln Sexualität gelebt werden darf. Eine Grundregel sei zum Beispiel, dass es Erwachsenen verboten ist, mit Kindern "Spiele mit Angucken, Anfassen, Nackigsein zu spielen". Außerdem sollte den Kindern vermittelt werden, dass die Basis für sexuelle Handlungen immer das Einverständnis aller Beteiligten sein sollte.

Kinder im Kindergartenalter stehen nebeneinander und halten sich an den Händen
Kindergärten, Kitas und Schulen können das Thema sexualisierte Gewalt gegen Kinder behandeln, um Kinder besser vor Übergriffen zu schützenBild: Monika Skolimowska/dpa/picture alliance

Täter und Täterinnen wählten gezielt solche Kinder als potenzielle Opfer aus, die bestimmte Risikofaktoren mitbringen, erläutert Hensen: "Kinder, die im Erziehungsalltag Gewalt erleben oder die Diskriminierung ausgesetzt sind. Kinder, deren Selbstwertgefühl nur schwach oder kaum vorhanden ist." Hier sei besondere Aufmerksamkeit gefragt, gerade in Kitas und Schulen.

Wer sind die Täter?

Hensen beobachtet in ihrer Arbeit bei "Strohhalm e.V." immer wieder, dass Eltern ihre Präventionsarbeit darauf beschränken, ihre Kinder vor Unbekannten zu warnen. Solche Botschaften leugneten aber die Tatsache, dass die Mehrheit der Täter und Täterinnen bei sexualisierter Gewalt aus der Familie, dem Freundes- oder Bekanntenkreis stammen. Viele würden ihre Taten strategisch planen und sich ein (Tätigkeits-)Umfeld suchen, das ihnen einen Zugang zu Kindern ermöglicht.

Ein klassisches Täterprofil zu identifizieren, sei schwierig, sagt auch Kerstin Claus, die sich als Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung gegen sexuellen Kindesmissbrauch einsetzt.

Aus Studien geht hervor, dass auf der Täterseite viele einen ausgeprägten Wunsch nach Macht und Überlegenheit haben. Nur bei einigen Tätern und wenigen Täterinnen komme eine sexuelle Fixierung auf Kinder hinzu.

Das Internet als Brandbeschleuniger

Julia von Weiler hat sich auf die Bekämpfung sexuellen Missbrauchs von Kindern im Internet spezialisiert: "Die digitalen Medien machen es Tätern und Täterinnen heute besonders leicht, anonym und oft unbemerkt Kontakt zu Kindern aufzubauen." Die rasanten technischen Entwicklungen würden kaum Schutzräume bieten. Ohne wirksame Gesetze und technische Hilfen hätten die Täter und Täterinnen dort fast freie Bahn.

Ein verschwommenes Gesicht steht vor einem Computer-Bildschirm, auf dem ein Login-Fenster zu einer Kinderpornografie-Seite angezeigt wird
Im Darknet gibt es unzählige Seiten auf denen pornografische Inhalte von Kindern geteilt werden Bild: Arne Dedert/dpa/picture alliance

Von Weiler und ihre Organisation "Innocence in Danger" fordern mehr digitale Bildung an Schulen, auf Schüler- wie auf Lehrerseite. "Gleichzeitig brauchen Polizei und Justiz technische Unterstützung und bessere Gesetze, und die großen Plattformen müssen endlich Verantwortung übernehmen, um Missbrauch zu verhindern", mahnt von Weiler.

Handeln, wenn Kinder sich verändern

Als Lena immer aggressiver wurde, ging ihre Mutter mit ihr zu einer Therapie. Erst dort konnte das Mädchen ihr Schweigen brechen. Es war der Beginn eines anstrengenden Heilungsprozesses mithilfe einer Traumatherapie.

Ein Screenshot des Instagram-Profils von Lena Jensen, eine junge Frau hält ein Mikrofon vor ihren Mund, daneben steht "Trigger Warnung Betroffene Geschichte, Mein Täter hat im Zimmer neben mir geschlafen es war mein Bruder"
Die Influencerin Lena Jensen postet regelmäßig Videos auf Instagram, auf denen sie ihre eigene Geschichte sexualisierter Gewalt und die von Betroffenen öffentlich machtBild: Lena Jensen/Instagram

Lena Hensen von "Strohhalm e.V." rät Eltern, die einen Verdacht haben, sich an Beratungsstellen und Fachpersonal zu wenden: "Wenn Kinder sich plötzlich verändern, plötzlich anders erscheinen, wir ein 'komisches' Gefühl haben, dann ist es gut, genau hinzuschauen." 

Bis heute darf Lena Jensen aus juristischen Gründen nicht genauer sagen, wer sie missbraucht habe. Wegen unzureichender Beweise wurde das Verfahren eingestellt.

Vor drei Jahren machte Lena Jensen ihre Geschichte öffentlich. Sie postet seitdem als "Überlebende von Kindesmissbrauch" aufklärende Videos in den Sozialen Medien. Jeden Tag bekommt sie Nachrichten von anderen Betroffenen, die ihr ihre Geschichte anvertrauen. Lena veröffentlicht sie anonymisiert.

Indem sie offen über ihre Vergangenheit spricht, will sie Aufmerksamkeit für das Thema erzeugen. Sie sagt: Nur wenn über ein Problem gesprochen wird, könne man es bekämpfen.

Dieser Artikel wurde nach der Entscheidung des Bundestags aktualisiert.