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Wie kompliziert ist die jetzige Situation Bulgariens?

21. März 2002

– Gibt es Voraussetzungen für ein diktatorisches Regimes? - "Der Gegensatz zwischen Erwartungen, Versprechungen und der Wirklichkeit ist gewaltig"

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Sofia, März 2002, WIRTSCHAFTSBLATT, deutsch

Ist in Bulgarien ein diktatorisches Modell der Staatsverwaltung möglich? Diese Frage ist weder rhetorisch noch absurd vor dem Hintergrund der heutigen Weltordnung. Wir befinden uns auf dem Balkan, wo die Idee von der "starken Hand" stets zahlreiche Anhänger hatte. Ohne uns selbst zu unterschätzen, müssen wir an die Erfahrungen aus jüngster Vergangenheit auf dem Balkan erinnern. Im gesamteuropäischen totalitären System mit der Sowjetunion an der Spitze gab es drei Länder (Bulgarien, Rumänien und Albanien), in denen die totalitären Regimes am stärksten ausgeprägt waren. Hinsichtlich der Härte konnte es nur die Sowjetunion mit ihnen aufnehmen. Vor 1989 gab es - ebenfalls auf dem Balkan - auch ein Jugoslawien, das trotz fortwährenden Lavierens zwischen dem "sozialistischen Weltlager" und der westlichen Demokratie von einem rein diktatorischen Regime mit Tito an der Spitze regiert wurde. Dieser wurde später von Milosevic abgelöst. Es gab auch das Regime der griechischen Obristen und die türkische Militärjunta. Das sind wohl auch schon alle Balkanstaaten, denn bei den anderen handelt es sich um Neuschöpfungen.

Wenn man diese Frage anschneidet, so tut man dies nicht in erster Linie wegen der historischen Erfahrungen. Bei weitem nicht alle unsere Freunde - und Feinde - im Ausland begreifen, dass sich Bulgarien heute in einer äußerst komplizierten Situation befindet. Und es geht hier nicht um die bizarre Kombination von einem Ex-König als Premier und einem Ex-Kommunisten als Staatspräsident. Es geht um weitaus seriösere Dinge. Ein ganzes Volk wurde im vergangenen Jahr betrogen, was einen drastischen Wandel seines politischen Verhaltens innerhalb von nur wenigen Monaten zur Folge hatte - wenn man in diesem Fall überhaupt von politischem Verhalten sprechen kann. Eine grandiose Manipulation, begangen von einem hoch verehrten, ja geradezu angebeteten Exilmonarchen, hat eine hilflose und chaotisch handelnde Regierung an die Macht gebracht. Dem bulgarischen Volk, dessen Lebensstandard von den früheren Regierenden recht geschickt und elegant dicht am Rande des Abgrunds gehalten wurde (und zwar wegen der unvermeidlichen Reformen und Transformationsprozesse in der Wirtschaft, die ja schließlich jemand einleiten musste), wurde erklärt, nun breche die "Neue Zeit" an, die wahre Wunder an sozialen Leistungen sowie eine "unverzügliche und unsymbolische Erhöhung" der Renten und jeglicher anderer Einkünfte mit sich bringen werde. Dies versprach Simeon II. höchstpersönlich, den das Volk wie einen Heiligen verehrte und achtete. Den Menschen liefen die Tränen in die Augen, als sie aus seinem Munde hörten, dass sie, die Bulgaren, es wahrlich nicht verdient hätten, ein solch miserables Leben zu führen.

Die Wahlen sind längst vorbei, doch das versprochene Wunder ist nicht eingetreten. Statt dessen kam es zur gezielten Einführung von administrativen Kommandomethoden der Wirtschaftslenkung, zu einem unaufhaltsamen Abgleiten in den Abgrund der Armut und der Misere, zur rücksichtslosen Auffüllung der Staatskasse durch unerträgliche Steuern und Gebühren, zur Erhöhung der zentral regulierten Preise der staatlichen Monopolbetriebe. Hier nur ein einfaches Beispiel: Die Rentner, die massenweise für die königliche Bewegung NDS II gestimmt haben und die wirklich ein kümmerliches Dasein fristen, müssen sich anstelle der versprochenen "unverzüglichen und unsymbolischen Erhöhung der Renten" mit einer Anhebung ihrer Einkünfte um, sage und schreibe, drei Euro begnügen. Und selbst die erhalten sie nicht sofort, sondern erst ab Juni dieses Jahres, das heißt 12 Monate nach den Parlamentswahlen.

Der Gegensatz zwischen dem Erwarteten, d.h. dem Versprochenen, und der Realität ist gewaltig, und das akkumuliert tagtäglich negative Energie in der Gesellschaft, was äußerst gefährlich ist. Jene, die einen Vertrauenskredit erhalten haben, führen nun wenig überzeugend klingende Argumente ins Feld, wie etwa das schwere ökonomische Erbe. Doch selbst Sofianski als geschäftsführender Premier und später auch Kostow haben sich seinerzeit nicht so oft mit der Hinterlassenschaft Widenows herausgeredet, obwohl sie im Jahr 1997 die Führung eines Staates mit 600 Prozent Inflation, zerrütteten Finanzen und praktisch nicht eingeleiteter Privatisierung übernommen hatten.

So gesehen, existieren im Land Voraussetzungen für die Etablierung eines diktatorischen Regimes der "starken Hand". Die Unzufriedenheit wächst. Wird sie zu sozialen Unruhen führen? Oder wird uns das erspart bleiben? Die Zigeuner, das heißt die Ärmsten, haben bereits mit Revolten begonnen. Die beiden großen Gewerkschaftszentralen, die normalerweise miteinander verfeindet sind, demonstrieren auf einmal Eintracht und drohen für Ende März mit einem Generalstreik. 200 Tage nach Anbruch der "Neuen Zeit" haben sich die rosigen Träume verflüchtigt, und die Atmosphäre im Land ist durch allgemeine Niedergeschlagenheit, aber auch durch wachsenden Unmut gekennzeichnet. Der "starke Mann" reibt sich bereits zufrieden die Hände. Doch wer ist er?

"Jemand, der sich hinter dem König verbirgt." Oder sind es gar mehrere? Diese Mutmaßung erscheint mir allzu primitiv. Oder zumindest übereilt. Wir haben schließlich gesehen, was mit Stojan Ganew passiert ist, dem allmächtigen Chef des Kabinetts des Ministerpräsidenten, bekannt auch als "graue Eminenz". Fast alle meinten, er regiere in Wirklichkeit das Land. Weit gefehlt. Ob Ganew in seinen Machtambitionen zu weit gegangen ist, ob er einen unverzeihlichen Fehltritt begangen hat, ob der König eine bloßstellende Information über ihn erhalten hat - das wissen wir nicht und werden es wohl auch nie erfahren. Tatsache ist, dass Ganew seine Machtpositionen verloren hat. Vorerst jedenfalls.

Oder hat vielleicht der neugewählte Staatspräsident Parwanow die Ambition, sich als der neue "starke Mann" auf dem Balkan zu profilieren? Auch dies ist meiner Meinung nach eine absurde Annahme. Ich glaube nicht, dass sich Parwanow mit diesem Gedanken trägt, nachdem er so große Anstrengungen unternommen hat, um Bulgarien, die Welt (und auch sich selbst) davon zu überzeugen, dass er bereits ein Sozialdemokrat ist, dass die Partei, aus deren Reihen er kommt, eine Partei europäischen Typs ist und sich ein für allemal vom Kommunismus losgesagt hat. Die Ex-Kommunisten brauchen jetzt wohl kaum einen neuen Todor Schiwkow, nachdem die "Neue Zeit" ihnen die ideale Möglichkeit für eine triumphale Rückkehr an die Macht bietet - auf absolut demokratische Weise, d.h. nach dem Willen des Volkes. Denn die fortschreitende Verarmung bietet der BSP, die sich mit ehrgeizigen sozialpolitischen Absichten trägt, die einmalige Chance, den Gipfel der Macht zu erklimmen. Auch wenn sie sich heute so verhält, als wäre sie gleichzeitig in der Regierung und in der Opposition. Die hundertjährige Partei hat mehrmals bewiesen, dass sie es versteht, selbst aus der prekärsten politischen Situation Nutzen zu ziehen.

Ein Militär oder ein ehemaliger Polizeibeamter? Oder die Armee als Ganzes? Das ist sehr zu bezweifeln. In Bulgarien war die Armee nie ein starkes Instrument zur Aufzwingung von politischem Willen. Und ein hochrangiger Polizeibeamter würde schwerlich akzeptiert werden. Denn er würde es wohl kaum in 800, ja nicht einmal in 8000 Tagen schaffen, das zu vollbringen, was in Bulgarien als das Schwierigste gilt - der Kriminalität das Rückgrat zu brechen. Die Popularität des derzeitigen Hauptsekretärs des Innenministeriums, Boiko Borissow - er steht an erster Stelle in der Rangliste der bulgarischer Führungskräfte -, macht ihn auf keinen Fall gefährlich für die Demokratie. Vielmehr braucht die Demokratie gerade einen solchen Mann. Der frühere Chefleibwächter von Todor Schiwkow (nach der Wende von 1989) war auch

Chefleibwächter von Simeon II. bei seinen triumphalen Rundreisen durch Bulgarien. Wie man jedoch sieht, können sich die "Leute des Königs" nicht vorstellen, höher zu stehen als der König.

Oder der König selbst? Simeon Sakskoburggotski in eigener Person? Geleitet von der manischen Ambition, wieder regierender Monarch zu werden?

Dies ist wahrlich die unmöglichste These, obwohl viele in Bulgarien vom Gegenteil überzeugt sind. Sie ist unmöglich aus folgenden Gründen: Erstens, Simeon von Sachsen-Coburg-Gotha (wie sein Name auf Deutsch lautet) würde es nie wagen, die Ehre seiner königlichen Familie und die der europäischen Dynastien, die ein friedliches Zusammenleben mit der Demokratie führen, direkt zu beflecken. Können Sie sich einen als Diktator regierenden Monarchen vorstellen, von dem sich alle anderen Königshäuser abgewendet haben? Zweitens. Nach dem Einstieg des Königs in die Politik und in das Alltagsgeschehen, nach seiner "Annäherung" an das gemeine Volk durch die Übernahme des mit den größten Schwierigkeiten und Risiken verbundenen Postens im Staat, dieses des Ministerpräsidenten, könnten die Anhänger der Monarchie wohl kaum mit der Unterstützung des Volkes rechnen, sollten sie eine derart sinnlose politische Operation mittelalterlichen Typs wie einen Staatsstreich wagen. Und drittens. Nach meiner tiefen Überzeugung ist der als Ministerpräsident amtierende König trotz all seiner Mängel einfach nicht der Mann, der so etwas täte. Er ist im Geiste der westlichen Demokratie erzogen worden. Ich habe den Eindruck, dass er sich vor seinem Einstieg in die Politik einfach nicht bewusst war, welche Konsequenzen diese Entscheidung haben könnte, und dass er nun diesen Schritt zutiefst bedauert. Vielleicht war und ist es das Traumziel des Königs, Staatspräsident zu werden.

Weiter würde er nicht gehen. Und das ist auch nicht möglich. Wer dann? Die Einzigen, vor denen sich die Demokratie in Bulgarien fürchten sollte, sind die zwielichtigen Wirtschaftsgruppierungen. Sie sind stark, mächtig und reich. (...) (fp)