NSU-Mordserie in Deutschland: Warum musste Opa sterben ?
8. September 2025Vor 25 Jahren begann die NSU-Mordserie von Rechtsterroristen, die sich "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) nannten, gegen Geschäftsleute mit türkischen oder griechischen Wurzeln. Morde in ganz Deutschland mit derselben Waffe, die jahrelang nicht aufgeklärt wurden. Die Ermittler konzentrierten sich auf die Ermordeten und ihre Familien. Der erste Mord war der Angriff auf den Blumenhändler Enver Şimşek im September 2000 in Nürnberg.
DW: Frau Kubaşık, als achtes Mordopfer wurde ihr Vater Mehmet Kubaşık am 4. April 2006 in seinem Kiosk in Dortmund erschossen. Wie geht es Ihnen heute?
Gamze Kubaşık: Der Mord an meinem Vater wird mich bis zu meinem eigenen Tod begleiten, der Schmerz über den Verlust. Aber ich kämpfe für meinen Vater. Das werde ich tun, bis mein Vater, meine Familie und all die anderen Familien Gerechtigkeit bekommen.
Ihre Eltern sind als kurdische Aleviten mit Ihnen aus der Türkei nach Deutschland geflohen, ihre Brüder wurden in Dortmund geboren - was für ein Mann war Ihr Vater?
Mein Vater war humorvoll, deswegen kam er sehr gut bei den Menschen hier an. Wenn ich in der Stadt war mit meinem Vater, hatte ich das Gefühl, jeder kennt ihn, weil er immer gegrüßt und umarmt wurde. Das hat mich total stolz gemacht.
Mein Vater war Borussia-Dortmund-Fan. Wenn Dortmund Fußball gespielt hat, hat er immer gesagt: "Heute spielt Heimat."
Sie haben zusammen mit ihrer Freundin Semiya Şimşek, die erst 14 war, als ihr Vater erschossen wurde, ein Jugendbuch über die Morde und Ihre Erfahrungen geschrieben: "Unser Schmerz ist unsere Kraft. Neonazis haben unsere Väter ermordet". Warum dieses Buch?
Ich mache politische Bildungsarbeit, gehe in Schulen, wo ich über den Mord an meinem Vater berichte, über den NSU, seine Verbrechen und die falschen Beschuldigungen gegen uns Familien. Die Schülerinnen und Schüler wissen wenig über die Opfer, das hat mich traurig gemacht.
Es war mir wichtig, dass die Jugendlichen wissen: Es war eines der größten Verbrechen in unserem Land. Ich will sichtbar machen, dass es immer wieder jemanden treffen kann. Es gibt wenig Lernmaterialien, die Schulen haben kaum was zum NSU.
Was erleben Sie auf Ihrer Lesereise?
Es ist schön zu hören von Menschen, die sagen, sie haben noch nie so ein kraftvolles Buch gelesen mit der starken Emotion, die sie gespürt haben. Wir wollten, dass die Leserinnen und Leser spüren, was wir damals erlebt haben: Schmerz, Verlust, Trauer, aber auch den Kampf, den wir geführt haben.
Wie ist die Polizei mit Ihnen umgegangen?
Es war die schlimmste Zeit meines Lebens. Am Tag nach dem Mord an meinem Vater wurden wir von der Polizei abgeholt. Ich wurde getrennt von meiner Mutter vernommen. Es folgten Fragen, ob mein Vater Drogen genommen oder Drogen an Jugendliche verkauft hat, ob er was mit der Mafia zu tun hatte. Ich saß da sieben Stunden. Das Einzige, was ich sagen konnte: "Nein, mein Vater würde niemals sowas tun."
Meine Mutter hat fürchterlich geweint. Ihr wurden dieselben Fragen gestellt und unterstellt: Vielleicht hatte mein Vater ein Verhältnis mit einer anderen Frau, meine Mutter hätte das herausgefunden und wäre schuld an dem Mord?
Nachbarn und andere haben geglaubt, dass mein Vater Drogen an Jugendliche verkauft hat. Ich wurde auf der Straße verflucht: Ich solle genauso verrecken wie die Kinder, die mein Vater vergiftet habe mit Drogen. Die Leute haben die Straßenseite gewechselt, wenn sie uns gesehen haben. Viele meiner Freundinnen durften nicht mehr mit mir sprechen.
Ihr Vater war das achte Mordopfer, zwei Tage später wurde in Kassel Halit Yozgat erschossen. Wie haben Sie gegen die falschen Verdächtigungen gekämpft?
In Kassel hat Familie Yozgat eine Demonstration organisiert. Da fing der Kampf an, so dass wir in Dortmund auch eine Demonstration organisiert haben, weil Menschen schlecht über uns geredet haben.
Irgendwann war das so schlimm für mich, dass ich ein Jahr lang die Wohnung und mein Zimmer nicht verlassen habe und meine Ausbildung aufgeben musste.
Die erhoffte Unterstützung war vor den Demonstrationen nicht da, sie war danach nicht da.
Erst 2011 flog der Terror des NSU auf: Zwei Neonazis wurden tot in einem brennenden Wohnmobil gefunden, ihre Komplizin verschickte ein zynisches Bekennervideo mit Fotos der Mordopfer. Es war klar, dass es rassistische Morde waren. Wie war Ihnen zumute?
Ich war sehr, sehr erleichtert. Ich habe erfahren, wer die Mörder meines Vaters sind. Ich beschreibe das so, dass ich all die Jahre so viel Last mit mir getragen habe - an diesem Tag konnte ich mich aufrichten.
Natürlich war auch die Wut groß, denn wie alle anderen Familien hat meine Mutter früh gesagt: Es könnten Nazis gewesen sein, die meinen Mann ermordet haben. Semiyas Mutter hat das bei der Polizei gesagt und alle anderen Familien auch. Das wissen wir aus den Akten. Wir wurden nicht ernst genommen all die Jahre.
Wie blicken Sie auf den NSU-Prozess in München zurück?
Vor dem Prozess hatten wir eine Gedenkveranstaltung mit unserer damaligen Bundeskanzlerin Frau Merkel. Wir haben das Versprechen bekommen, dass die Taten lückenlos aufgeklärt werden.
Ich bin mit der Hoffnung nach München gegangen, dass wir auf die vielen offenen Fragen Antworten bekommen. Leider beschäftigen mich solche Fragen bis heute: Hätte man den Mord an meinem Vater verhindern können? Gibt es weitere Helfer oder Unterstützer in Dortmund, die frei rumlaufen?
Wie sicher fühlen Sie sich heute?
Deutschland ist meine Heimat, Dortmund mein Zuhause. Dadurch, dass ich meine Freunde, Familie und ganz tolle Menschen um mich habe, die mich unterstützen, kann ich sagen, dass ich mich in der Gesellschaft hier in Dortmund, mit der ich zusammenlebe, sicher fühle.
Aber es ist so, dass ich ein mulmiges Gefühl habe, wenn ich allein unterwegs bin und denke: Du kannst hier jemanden treffen, der mit schuld war am Mord deines Vaters, der vielleicht geholfen hat.
Die Hauptangeklagte im NSU-Prozess, Beate Zschäpe, die zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, wurde in ein Neonazi-Aussteigerprogramm aufgenommen. Sie haben mit zwei anderen Töchtern eine Petition dagegen gestartet. Warum?
Es war einer dieser Schläge ins Gesicht, die wir all die Jahre erleben müssen. Wir haben die Petition gestartet, um zu sagen, das ist nicht richtig. Meine Mutter und ich gehören zu den wenigen, die den Prozess fünf Jahre begleitet haben. Ich habe in den fünf Jahren keine Reue gesehen, keinen Blick, keine Entschuldigung, kein Wort - auch später nicht aus der Haft.
Wir wissen, dass sie unterstützt wurde von der rechten Szene, dass sie Kontakt hatte. Das ist offensichtlich, dass sie das Aussteigerprogramm nur ausnutzt, damit sie schneller aus ihrer Haft kommt.
Welche Sorgen machen Ihnen rechtsextreme Anschläge in Deutschland wie in Hanau oder die Wahlerfolge der in Teilen rechtsextremen AfD?
Der Rechtsruck in unserem Land ist sehr präsent. Wir haben es nach den NSU-Morden gesagt: Solange politisch nichts passiert, werden weitere Anschläge passieren. Wir möchten nicht, dass eine Familie erleben muss, was wir erlebt haben. Das hat meine Mutter bei jeder Begegnung im Parlament, beim Bundespräsidenten oder der Bundeskanzlerin gesagt.
Der Anschlag in Hanau: Mein Schmerz, das ist alles wieder hochgekommen, als wäre das mein Vater gewesen, als würde ich das alles noch mal erleben, dieses Trauma. Der Mord an Walter Lübcke: Das war erschreckend, ich war sehr wütend.
Ihr Sohn trägt den Namen seines Opas Mehmet. Wie haben Sie ihm gesagt, was seinem Großvater passiert ist?
In all den Jahren habe ich gedacht, ich bin vorbereitet. Als mein Sohn Mehmet dann gefragt hat, "was ist mit meinem Opa passiert?", war ich nicht in der Lage, ihm das zu erklären, so dass mein Mann das übernommen hat.
Heute kann ich mit meinem Sohn darüber sprechen. Er fragt, was für eine Person mein Vater war, aber auch nach dem Mord. Er versteht das nicht und kann das nicht akzeptieren.
Für mich ist es schön, dass er meinen Vater in seinem Herzen trägt, obwohl er ihn nie kennengelernt hat. Er ist stolz, dass er seinen Namen tragen darf. Er ist bei den Gedenkveranstaltungen dabei und beim Mehmet-Kubaşık-Kinderfest, er nimmt teil am Mehmet-Kubaşık-Fußball-Cup für Kinder und Jugendliche.
Zu mir hat er gesagt: "Mama, euer Buchtitel passt richtig gut zu euch. 'Unser Schmerz ist unsere Kraft' - du hast einen Riesenschmerz in dir, weil dein Papa ermordet wurde, aber wenn du zu den Leuten sprichst für meinen Opa, dann machst du einfach deine Tränen weg und dann bist du richtig stark."
Sie haben Ihrem Sohn gesagt, als er nach dem Grund für den Mord an seinem Opa gefragt hat: Er sah anders aus. Was hat er geantwortet?
"Aber warum? Mein Opa war doch so hübsch." Dann muss man eine Erklärung finden, weil ein Kind das nicht verstehen kann, diesen Hass von den Nazis, dass man jemanden ermordet, nur weil man anders aussieht oder einen anderen Namen trägt. Dafür habe ich keine Erklärung.
Was wünschen Sie sich heute?
Der NSU war kein Einzelfall. Dieser Rechtsruck in unserem Land - wir haben ein sehr großes Problem. Wir müssen zusammenhalten, wir dürfen uns nicht spalten lassen, das sage ich den Jugendlichen immer, wenn sie fragen: "Was müssen wir machen?" Wir haben alle Verantwortung. Dazu gehört, dass wir wählen gehen und dieser bestimmten Partei nicht die Chance geben, dass unsere Gesellschaft gespalten wird.
Was gibt Ihnen Hoffnung?
Heute bin ich nicht allein. Heute gehe ich auf Veranstaltungen, Podiumsgespräche, besuche Schulen. Ich habe Hoffnung, wenn ich in den Augen der Schüler sehe, meine Geschichte ist bei denen angekommen. Sie verstehen es und sie wollen was verändern.
Das Interview führte Andrea Grunau.