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Wer glaubt in Bulgarien noch an den Sozialismus?

16. November 2004
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Sofia, 16.11.2004, 1137 GMT, RADIO BULGARIEN IS, deutsch

Am letzten Wochenende hat sich die Parteispitze der Bulgarischen Sozialistischen Partei im Skiort Borowetz versammelt, um die Richtlinien für ihre erwartete Regierungszeit nach den bevorstehenden Parlamentswahlen im Sommer 2005 zu zeichnen. Es ging um Meinungsumfragen, um potentielle Koalitionspartner, um Wahllisten usw., jedoch meistens hinter verschlossenen Türen. Für die Wählerinnen und Wähler geht es aber in erster Linie um die sozialistische Idee und darüber, wer 15 Jahre nach der Wende vom 10. November 1989 noch daran glaubt.

Die 15jährige Sonja aus unserer Hauptstadt Sofia weiß so gut wie nichts über Todor Schiwkow, der 35 Jahre lang bulgarischer Staats- und Parteichef war. Sonjas Großvater aber erinnert sich mit Wehmut an diese Zeit, als er jedes Jahr mit der ganzen Familie an der Schwarzmeerküste Urlaub machte. Seine Rente reicht ihm heute gerade mal für die Strom-, Telefon- und Wasserrechnung. Sonjas Großvater glaubt daran, dass die sozialistische Idee im Wendejahr ´89 nicht gestorben ist. Sobald die Wahltrommel in Bulgarien geschlagen wird, eilt der Großvater zur Wahlurne, um seine Stimme der Nachfolgepartei der bulgarischen KP – der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP) - zu geben.

Schauen wir uns die Ergebnisse der Meinungsumfragen aus den letzten Monaten an, so käme die BSP auf immerhin rund 23 Prozent der Stimmen. Die reformierte linke Partei Bulgariens hält dieses Ergebnis seit knapp zwei Jahren und ist somit die populärste politische Kraft in unserem Land. Mit ein Grund dafür ist mit Sicherheit die Altersstruktur der Bevölkerung, denn die Rentner machen inzwischen ein Viertel der gesamten Bevölkerung in Bulgarien aus. Rentner, wie Sonjas Großvater, wohlgemerkt. Die Rentner sind besonders stark betroffen von den harten sozialen und wirtschaftlichen Reformen nach der Wende. (...) Es sind immer wieder die Rentner, die den Urnengang nie scheuen. Für die wachsende Popularität der Bulgarischen Sozialistischen Partei haben diese "Kleinigkeiten" schon eine große Bedeutung.

Es ist keinesfalls so, dass die bulgarische Linke keine Anhänger unter den jüngeren Wählerinnen und Wählern hätte. Wie jede normale Partei hat sie ihre Stammwähler und im Gegensatz zu den Stammwählern der Mitte-Rechts-Parteien begleiten sie die Sozialisten treu durch all die Jahre nach `89.

Noch eine Tendenz zeichnet sich aber ab. Die BSP hat sich von ihrem kommunistischen Beigeschmack aus der Vergangenheit vielleicht schon endgültig getrennt und erinnert immer mehr an die sozialdemokratischen Schwesterpartien in Europa. Sie ist Mitglied in der Sozialistischen Internationale und tritt für soziale Gerechtigkeit ein, wogegen keiner etwas einzuwenden hätte. Wer will schon keine zugängliche medizinische Versorgung, keine zugängliche Schulausbildung oder keine gerechte soziale Fürsorge? (...)

Die Kinder der demokratischen Wende kennen den real funktionierenden Sozialismus zwar nicht, aber sie wollen auch kaum etwas davon wissen. Und das ist gut so, denn sie halten mit ihrer Zeit Schritt, leben frei und unabhängig, im Gegensatz zu ihren Eltern und Großeltern, die immer wieder ungewollt den Vergleich zu früher machen. Für sie klingen die heutigen Wahlbotschaften der Sozialisten gar nicht so fremd, sondern oft modern und zeitgemäß. Das gefällt den jungen Wählerinnen und Wählern. (...) Ob all das reichen wird, damit die Sozialistische Partei die Parlamentswahlen 2005 gewinnt, werden wir sehen. (fp)