Vor fünf Jahren: der rassistische Anschlag von Hanau
17. Februar 2025Am 19. Februar 2020 verübte ein rechtsextremistisch und rassistisch motivierter Schütze in Hanau in der Nähe von Frankfurt am Main einen mörderischen Anschlag. Er nahm Orte ins Visier, die er mit Migranten in Verbindung brachte. Er tötete neun Menschen und verletzte sieben weitere. Anschließend richtete er seine Waffe gegen seine Mutter und sich selbst, beide starben.
Der Täter hatte sich kurz vor den Anschlägen YouTube-Videos angesehen, darunter Reden von Björn Höcke, einem der bekanntesten Vertreter der in Teilen rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD).
Fünf Jahre danach sagt eine der Mütter der Opfer: Es wurde nicht genug getan, um zu verhindern, dass sich solche Tragödien wiederholen. Serpil Temiz Unvar hat ihren 23-jährigen Sohn Ferhat Unvar verloren. "Meiner Meinung nach hat dieses tragische Ereignis zwar eine Resonanz in der Gesellschaft hervorgerufen, jedoch war diese Resonanz vor allem den entschlossenen Bemühungen der betroffenen Familien zu verdanken, die unermüdlich dafür gekämpft haben, ihre Stimmen hörbar zu machen", sagt sie der DW.
"Diese Anstrengungen, unterstützt von der gezeigten Solidarität vieler, haben dazu beigetragen, dass sich die Gesellschaft in diesem Fall stärker zusammengefunden hat als bei vergleichbaren Vorfällen in der Vergangenheit. Aber die individuellen Bemühungen, so wichtig sie auch sind, reichen nicht aus, um eine tiefgreifende gesellschaftliche Transformation zu bewirken."
Gedenken an die Opfer
Kurz nach dem Mordanschlag gründete Unvar eine nach ihrem Sohn benannte Bildungsinitiative mit dem Ziel, Rassismus zu bekämpfen und junge Menschen zu stärken. In der Stadt wurde eine Reihe weiterer sozialer und politischer Projekte ins Leben gerufen. Viele wurden von Familienangehörigen und Freunden der Opfer ins Leben gerufen oder unterstützt. Sie sind entschlossen, Fehler aufzudecken, durch die die Anschläge möglicherweise hätten verhindert werden können. Sie wollen die Erinnerung an ihre Angehörigen wachhalten und den Rassismus in der deutschen Gesellschaft sichtbar machen.
Bis 2026 soll auf einem Platz in Hanau, der in 19. Februar umbenannt wird, ein Mahnmal errichtet werden, eine Stahlskulptur, die die Namen der neun Opfer trägt: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Es wird vor dem Haus der Demokratie und Vielfalt stehen, das nach Fertigstellung 2026 Raum bieten soll für Dialog, Bildung und Gedenken.
Getötet durch eine Ideologie wie im Nationalsozialismus
Hanau ist kein Einzelfall. Experten der Amadeu-Antonio-Stiftung gehen davon aus, dass allein im wiedervereinigten Deutschland weit über 200 Menschen bei rechtsextremen Anschlägen ums Leben gekommen sind, deutlich mehr als in den offiziellen Statistiken der Behörden. Während das Land oft für seine Erinnerungskultur in Bezug auf den Holocaust und die Verbrechen der Nazi-Zeit gelobt wurde, kritisieren viele, dass die Bereitschaft, sich mit den rassistischen Gewalttaten der Nachkriegszeit auseinanderzusetzen, geringer sei.
Furkan Yüksel, Mitglied des Netzwerks für eine pluralistische Erinnerungskultur "Coalition for Pluralistic Public Discourse" (CPPD), Pädagoge mit den Fächern Geschichte und Politik, gehört zu den Kritikern der deutschen Erinnerungskultur. "Ich denke, dass das deutsche Bild von sich selbst als Nation, die ihre Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen und ihre Vergangenheit erfolgreich hinter sich gelassen hat, ein wenig trügerisch ist“, sagt er der DW.
Mirjam Zadoff, Leiterin des Münchner Dokumentationszentrums für die Geschichte des Nationalsozialismus, sagt, es sei notwendig, die Verbindungen zwischen Deutschlands Vergangenheit und seiner Gegenwart zu erkennen.
"Es ist so wichtig, die Kontinuitäten aufzuzeigen, weil es Menschen gibt, die durch dieselbe Ideologie getötet werden, und die manchmal sogar aus derselben Familie stammen - wie im Fall von Mercedes Kierpacz: Ihr Urgroßvater wurde in Auschwitz getötet, sie selbst wurde zu einem der Opfer in Hanau.“ Kierpacz, eine 35-jährige Mutter mit zwei Kindern, gehörte - wie zwei weitere Hanauer Opfer - der Minderheit der Roma und Sinti an, deren Angehörige im Nationalsozialismus verfolgt und ermordet wurden.
"Diese Idee einer homogenen Gesellschaft, die sich als deutsch versteht, während jeder, der eine andere Religion oder eine andere ethnische Zugehörigkeit hat, ein Außenseiter bleibt - das ist eine Fortsetzung der beiden deutschen Diktaturen", sagt Zadoff der DW.
Erweiterung der Erinnerungskultur
Als die Mitte-links-Regierung von Bundeskanzler Olaf Scholz 2021 an die Macht kam, wurde im Koalitionsvertrag festgelegt, dass die Erinnerungskultur des Landes um die Kolonial- und Migrationsgeschichte erweitert werden sollte. Deutschland hat sich erst 1999 offiziell als Einwanderungsland bekannt. Doch bereits in den 1950er Jahren kamen sogenannte Gastarbeiter in großer Zahl in das damalige Westdeutschland, in den 1980er Jahren kamen ausländische Arbeitskräfte nach Ostdeutschland - und die Geschichte der schwarzen deutschen Gemeinschaft reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück.
Während es in den norddeutschen Städten Hamburg und Bremerhaven zwei Museen gibt, die die Geschichte der deutschen Auswanderung nach Übersee erzählen, soll das erste Museum des Landes über die Migration nach Deutschland erst 2029 in Köln eröffnet werden. Das Museum Selma geht auf eine Initiative türkischer Migranten aus den späten 1980er Jahren zurück.
Vorschläge aus dem Büro der Kulturbeauftragten Claudia Roth (B90/Grüne), die Erinnerungskultur in Deutschland zu erweitern, wurden im vergangenen Jahr aufgrund der Kritik insbesondere der Leiter von Holocaust-Gedenkstätten auf Eis gelegt. Sie waren besorgt über eine Relativierung der Shoah, der systematischen Ermordung von rund sechs Millionen Juden, von Sinti und Roma, politischen Gegnern und anderen Gruppen.
In einigen öffentlichen Einrichtungen ist jedoch bereits ein Umdenken zu beobachten. Das Münchner Dokumentationszentrum zur Geschichte des Nationalsozialismus hat nach dem Amoklauf 2016 in München, bei dem neun Menschen getötet wurden, begonnen, Ausstellungen über rechte Gewalt in Deutschland zu zeigen. 2024 zeigte es die Installation "Wir sind Hier" von Talya Feldman. Basierend auf ihrem gleichnamigen digitalen Kartenprojekt erinnert das Werk an die Opfer von rechtsextremem Terror und Polizeigewalt in den letzten 40 Jahren, auch in Hanau. Die US-amerikanische Künstlerin nennt ihr Projekt einen Aufruf zum "aktiven Erinnern".
Kritik an Rassismus und politischer Debatte zur Migration
Furkan Yüksel wünscht sich länderübergreifende Ansätze für den Geschichtsunterricht an deutschen Schulen - und die Erkenntnis, dass Rassismus und Rechtsextremismus in allen kulturellen Kontexten existieren. Außerdem fordert er verpflichtende Antidiskriminierungstrainings als Teil der Lehrerausbildung in Deutschland. Das Bewusstsein für strukturellen Rassismus solle in der Bildung ebenso gestärkt werden wie bei Strafverfolgungsbehörden und im Gesundheitssystem.
Er kritisiert den politischen Diskurs über Migration quer durch das Parteienspektrum im Zuge der umstrittenen Debatte um sogenannte "Remigration“ durch die AfD, die offenbar geplante massenhafte Abschiebung von Millionen Bürgern. "Man muss das Bewusstsein schaffen, dass rechte Gewalt nicht ein Phänomen von verrückten Einzeltätern ist", sagt Yüksel. Nicht erst eine gezückte Waffe führe zu Gewalt.
Gut drei Jahre nach den Hanauer Morden wurde die AfD, die vom Verfassungsschutz als teilweise rechtsextrem eingestuft wird, bei der Landtagswahl 2023 im Bundesland Hessen, zu dem Hanau gehört, mit über 18 Prozent zweitstärkste Partei.
Im vergangenen Herbst musste ein 27 Meter langes Wandgemälde mit den Gesichtern der Hanauer Opfer in Hessens größter Stadt Frankfurt restauriert werden, nachdem es mit einem Hakenkreuz und SS-Runen beschmiert worden war.
Noch bedrohlicher ist, dass der Vater des Täters die trauernde Mutter Serpil Temiz Unvar trotz einstweiliger Verfügung immer wieder mit Briefen und Kontaktversuchen belästigt und beleidigt hat. Im Oktober forderte Unvars Anwalt eine 18-monatige Gefängnisstrafe, doch die Richterin lehnte dies ab.
In ihrer Urteilsbegründung heißt es, dass der 77-jährige Rentner Hans-Gerd R. zweifelsfrei rassistisch sei. Er habe die Menschenwürde von Migranten "böswillig verächtlich gemacht". Eine Gefängnisstrafe sei jedoch unangemessen. Mit seinen Taten werde er vermutlich nicht aufhören. Das sei aber etwas, "was die Gesellschaft ertragen muss".
Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.