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"Viele unserer Kinder leben heute in Europa"

17. Juni 2004

- Tschetschenische Flüchtlinge in Deutschland

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Bonn, 17.6.2004, DW-RADIO, Elena Beier

Zwischen Januar und Mai dieses Jahres haben etwa 16 000 Menschen Asyl in der Bundesrepublik beantragt. Auch wenn die Zahl der Asylanträge der Bürger der Russischen Föderation in den vergangenen Jahren fast um das Vierfache gesunken ist, waren es bis Mai immerhin 1100 Personen, die in Deutschland um politisches Asyl gebeten haben. Die meisten Antragsteller stammen ursprünglich aus Tschetschenien. Der Krieg hat sie vertrieben - und auch wenn der Krieg offiziell vorbei ist, können die Flüchtlinge noch nicht zurück. Elena Beier hat eine der Flüchtlingsfamilien besucht und berichtet über die Situation der tschetschenischen Flüchtlinge.

Mit seiner fünfköpfigen Familie kam Aslan vor etwa drei Jahren nach Deutschland. Er hat keine andere Möglichkeit für seine Kinder gesehen, in Frieden aufzuwachsen und zur Schule zu gehen. Er selbst schwebte in Lebensgefahr. Sein Verbrechen: Der Arzt von Grosny hat unter schwersten Bedingungen, teils ohne Wasser- und Stromversorgung während der Kriegshandlungen operiert und vielen Menschen das Leben gerettet, ohne hinzuschauen, auf welcher Seite sie kämpften. Das wurde ihm zum Verhängnis:

Aslan:

"Meine Patienten waren sowohl Tschetschenen, als auch Russen. Später bekam ich auch Schwierigkeiten von beiden Seiten. Dabei hat doch ein Arzt keine Wahl: Es gibt für uns nur Kranke. Politik oder Religion spielen keine Rolle."

Nach dem ersten Tschetschenien-Krieg (1994-1996) folgte eine Odyssee durch Russland. Im Tschetschenien der Nachkriegszeit war Aslan gewiss kein Held, hat er doch angeblich den russischen Militärs geholfen und sie medizinisch versorgt. Für die Russen waren alle Tschetschenen pauschal als Feinde abgeurteilt. Aslans Frau Tamara kommen immer noch die Tränen, wenn sie darüber erzählt, wie sie eine ehemalige Kommilitonin in Moskau um Hilfe bitten wollte.

Tamara:

"Es war eine Kollegin, mit der ich sehr befreundet war. Der zweite Tschetschenien-Krieg hatte schon begonnen, und ich suchte nach einem Job in Moskau. Ich rief sie an... ‚Du bist es? Was machst du hier. Ruf mich bloß nie wieder an, ich will nichts von dir wissen!‘ Ich fragte, was los sei, wir waren doch so eng befreundet! Sie sagte, es sei für sie schlimm genug, dass ich Tschetschenin sei. Das waren ihre Worte."

Heute lebt die Familie in Köln. Ihre Wohnung ist nach deutschen Maßstäben viel zu eng und wirkt ärmlich. Im großen Zimmer stehen die Betten der Kinder, hier wird auch gegessen, hier werden Hausaufgaben gemacht. Doch die Familie ist stolz, es so schnell in der Fremde zu etwas gebracht zu haben. Auf der faulen Haut zu liegen und auf bessere Zeiten in der Heimat zu warten, das wäre zu einfach! Und so hat Aslan mit Ende 40 noch die Schulbank gedrückt, damit er auch in Deutschland als Arzt arbeiten kann. Nun ist sein Diplom anerkannt worden, und er hat eine Stelle in einem Krankenhaus gefunden. Für die Kinder ist er ein großes Vorbild: Die älteste Tochter hat sich für das Medizinstudium an der Kölner Uni entschieden, nachdem sie ein Kölner Gymnasium absolvierte. Der jüngste Sohn ist 12 und will ebenfalls studieren, um wie sein Vater Arzt zu werden.

"Solche Kinder sind unsere Goldreserve", so Achmed Sakajew, der im Londoner Exil lebende Bevollmächtigte des legitim gewählten Tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow, der vom Kreml allerdings nicht anerkannt wird. Der wohl bekannteste tschetschenische Flüchtling Achmed Sakajew betont, dass es in den vergangenen 10 Jahren in Tschetschenien keine Möglichkeit gegeben hat, der heranwachsenden Generation den Zugang zur Bildung zu gewährleisten. Dass Kinder tschetschenischer Flüchtlinge in Europa diese Möglichkeit erhalten, bezeichnet er als "Glück im Unglück":

Sakajew:

"Viele unserer Kinder leben heute in Europa und können hier lernen. Sie lernen Sprachen und soweit ich informiert bin, sind sie sehr gut in der Schule. Und ich bin absolut sicher, dass diese jungen Leute in ihre Heimat zurückkehren werden. Sie vergessen keine Minute, was zu Hause los ist. Und deren Dschihad ist, hier in Europa eine Bildung zu erhalten. Das ist ihr Beitrag zu unserem Kampf für unsere Souveränität, für unsere Unabhängigkeit und Freiheit und letztendlich für unsere Zukunft. Diese Jugendlichen sind auch die Zukunft des tschetschenischen Volkes."

Doch die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr in die Heimat ist getrübt: Von der politischen Lösung der "Tschetschenien-Frage" sei man noch sehr weit entfernt. Russland sei wohl ein viel zu wichtiger Partner für den Westen in der derzeitigen weltpolitischen Situation, dass man in Sachen Tschetschenien Druck ausüben könnte, stellt Achmed Sakajew fest. Doch man müsse auch dankbar sein, genießen doch so viele Tschetschenen politisches Asyl in Deutschland und anderen Ländern der Welt!

Sakajew:

"Ich kann eine ziemlich genaue Zahl nennen: etwa 92 000 leben derzeit in den Ländern West- und Osteuropas und in Asien, darunter in der Türkei, in Kasachstan und in einigen Nachfolgestaaten der Ex-Sowjetunion. Dazu kommen etwa 200 000 Flüchtlinge in Inguschetien, die nicht in den Zeltlagern leben, sondern verstreut in dieser Kaukasusrepublik."

Die in Deutschland und weiteren Ländern Europas lebenden Flüchtlinge und ihre Kinder hätten aber mehr Sicherheit als diejenigen, die in unmittelbarer Nähe zu Tschetschenien Zuflucht gefunden haben, so Achmed Sakajew.

Und doch wollen Aslan und Tamara nicht, dass ihre echten Vor- und Nachnamen genannt werden. Auch im sicheren Deutschland. Denn auch sie haben noch Verwandtschaft in der Heimat, um die sie sich große Sorgen machen, denn jeden Tag sterben in Tschetschenien Menschen. Auch wenn es offiziell heißt, dass der Krieg zu Ende sei. (lr)