UNMIK-Chef mahnt in Fernsehrede Kosovo-Politiker zur Übernahme von Verantwortung
21. Januar 2003Pristina, 20.1.2003, UNMIK-Webseite, engl.
Volltext einer Fernsehansprache des Leiters der UN-Verwaltung im Kosovo, Michael Steiner
Die Verantwortung für 2003 übernehmen
Liebe Kosovaner, das vor uns liegende Jahr wird nicht einfach werden. Wir stehen vor drei schwierigen Herausforderungen. In der Wirtschaft - wo viel zu viele Menschen keinen Arbeitsplatz haben. Bei der Kriminalität – wo es immer noch organisiertes Verbrechen im Stil der Mafia gibt. Bei der Muliti-Ethnizität – wo es immer noch keine echte multi-ethnische Gesellschaft gibt. Wo es immer noch Enklaven gibt und wo Menschen, die Minderheiten angehören, viel zu häufig schikaniert werden.
Und in dieser Lage haben wir Institutionen, die ihre Verantwortlichkeiten noch nicht erfasst haben. Sie kennen das Schuldzuweisungs-Spiel im Kosovo: "Wir sind nicht zuständig – wir können nichts machen – es ist die Schuld der internationalen Gemeinschaft".
Aber das ist eine Scheindebatte. Wie sieht die Realität aus?
Die Realität ist, dass Ihre Führer nicht mehr in der Opposition sind, Sie sind an der Macht und sie haben echte Macht. Ihre Regierung kontrolliert 350 Millionen Euro. Das sind nach altem Geld 700 Millionen DM. Sie hat zehn Ministerien. Sie ist verantwortlich für Unverzichtbares wie Schulen, Krankenhäuser oder Verkehr.
Das heißt für die Schulausbildung Ihrer Kinder. Das heißt für Ihre Gesundheit. Das heißt für Ihre Straßen.
Das sind vitale Verantwortungsbereiche in jeder Regierung. Das sind die Themen, deretwegen in Europa Wahlen gewonnen oder verloren werden. Und die sind Ihren Führern keine Aufmerksamkeit wert? Sie müssen bereit sein, ihre Verantwortung anzunehmen.
Nehmen wir das heiße Thema Einkommensteuer. Ich verstehe die Sorgen der Menschen. Aber machen wir uns doch die tatsächliche Lage klar. Der Steuersatz von 20 Prozent für Einkommen über 3000 Euro wurde schon beschlossen, bevor ich im Kosovo ankam. Er wurde am 14. Oktober im Rat für Wirtschaft und Steuern (dem EFC) von Ihrer Regierung gebilligt. Es war die Regierung, die am 5. November in Brüssel gemeinsam mit der UNMIK die gesamte Gebergemeinschaft darüber informierte, wie hoch dieser Satz lag. Aber was hörten wir die gesamte letzte Woche?
"Steiner ist Schuld".
Das ist nicht der verantwortungsvolle Weg, mit einem so ernsten Thema umzugehen.
Stattdessen habe ich nun die Regierung aufgefordert, dem EFC auf einer Sondersitzung am kommenden Freitag (24.1.) einen konkreten und praktikablen Vorschlag vorzulegen, dann werde ich rasch handeln - und natürlich die sozialen Gegebenheiten des Kosovo berücksichtigen. Aber wir müssen diese Verantwortung gemeinsam schultern und nicht einfach die Schuld abwälzen.
Liebe Kosovaner,
niemand erwartet, dass alles gleich perfekt ist. Die UNMIK muss jedoch mehr Befugnisse an Ihre Regierung und Institutionen übertragen und will das auch. Lassen Sie es mich deutlich sagen – Ich bin bereit, alle Kompetenzen, bei denen ich das rechtlich kann, bis Jahresende an die vorläufigen Institutionen zu übertragen. Aber unter einer Bedingung. Sie müssen ernsthafter arbeiten. Wenn sie das tun, werde ich unmittelbar mit Premierminister Bajram Rexhepi einen gemeinsamen Plan entwickeln, um auszuarbeiten, wie diese Machtübertragung reibungslos und effizient geschehen kann. Und Bajram und ich arbeiten gut zusammen.
Ich möchte jedoch genauso deutlich sagen, dass es bestimmte Dinge gibt, die ich nicht übertragen kann. Glauben Sie mir, ich werde auf einer fairen Behandlung der Minderheiten bestehen. Und die auswärtigen Beziehungen, der Kampf gegen das organisierte Verbrechen und die Sicherheitsbelange, all das wird bei mir bleiben.
Das sind meine Aufgaben, die mir von der höchsten internationalen Autorität in der Welt anvertraut wurde – dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.
Bevor ich mich unseren Prioritäten für das Jahr 2003 zuwende, vergessen wir nicht, was wir im Jahre 2002 erreicht haben. Wir haben gemeinsam eine Menge erreicht.
Wir haben die Regierung geschaffen. Wir haben die verbliebenen Gefangenen aus Serbien in das Kosovo gebracht. Wir haben ein Privatisierungsgesetz. Wir haben friedliche, erfolgreiche Kommunalwahlen abgehalten. Sie können mit Ihren KS-Nummerschildern und Ihrer Kosovo-Versicherung frei nach Albanien und Mazedonien und bald auch in andere Nachbarländer reisen. Wir haben ein Abkommen über die polizeiliche Zusammenarbeit mit allen unseren Nachbarn. Wir haben den nördlichen Teil von Mitrovica aus der Grauzone geholt. Und ich werde mich an mein Versprechen halten, dass es keine Teilung geben wird.
Übrigens, lassen Sie mich hier einmal Belgrad erwähnen. Wenn wir keinen Dialog mit Belgrad hätten, wie hätten wir dann die Gefangenen zurückgeholt? Wie sonst können wir herausfinden, was mit den Vermissten geschehen ist? Wie sonst hätten wir die Göttin auf den Thron ins Museum in Pristina zurückbringen können?
Gleichzeitig werden wir jedoch niemals eine Rückkehr in die Vergangenheit zulassen, als die Angelegenheiten Kosovos in Belgrad entscheiden wurden. Daher sage ich zu Belgrad: "Kooperation ja – Einmischung nein".
Nun zurück zu unseren Prioritäten.
Zunächst die Wirtschaft: Machen wir uns nichts vor. In einer modernen Wirtschaft gibt es nur einen Weg zur Schaffung von Arbeitsplätzen, und das ist durch das Anlocken von Investitionen. Wann glauben Sie, werden Investoren bereit sein, im Kosovo zu investieren? Nur wenn sie sicher sein können, dass ihr Geld nicht verloren ist. Nur, wenn sie sich auf das Rechtssystem verlassen können. Nur wenn die Bewegungsfreiheit und die Eigentumsrechte gewährleistet sind. Nur wenn sie sich darauf verlassen können, die Dinge effizient erledigen zu können, ohne Papierkrieg oder Bakschisch. Kurz gesagt, nur wenn das Kosovo zeigt, dass es die Standards erreicht, die ich in den Zielvorgaben dargelegt habe. Diese Standards sind keine Hindernisse. Im Gegenteil, sie weisen den Weg in die Zukunft des Kosovo.
Wir müssen es auch den Unternehmen leicht machen, im Kosovo zu investieren. Viele Investoren haben uns bereits von ihren Frustrationen hier berichtet. Sie müssen hier ein Formular besorgen, dort einen Stempel und eine Unterschrift von anderswo. Diese Übung ist Ihnen allen wohlbekannt.
Wir brauchen eine einzige Stelle, an die sich die Investoren werden können. Eine Behörde, wo sie alles erledigen können. Eine Anlaufstelle. Offensichtlich ist das etwas, was wir gemeinsam mit der Regierung tun müssen.
Um jedem zu helfen, in das Kosovo zu reisen, wird der Flughafen von Pristina verbessert, und innerhalb eines Jahres wird er von der KFOR an ein ziviles Management übergeben. Es wird auch eine Fluglinie für das Kosovo geben. Vor kurzem war es mir eine besondere Freude, die beiden ersten kosovanischen Piloten für Fluggesellschaften, die in Deutschland ausgebildet und qualifiziert wurden, mit Preisen auszuzeichnen. Vielleicht werden sie die ersten sein, die die Flugzeuge der neuen Fluglinie für das Kosovo fliegen werden.
Zweitens Verbrechen:
Sie und ich sind es Leid, dass der Name Kosovos immer noch von Verbrechern befleckt wird, die sich nicht an das Gesetz halten. Von Gangstern, die alte Rechnungen mit Mord und Gewalt begleichen. Wir alle bemühen uns, im Kosovo eine respektable Gesellschaft mit geachteten Institutionen aufzubauen. Zur gleichen Zeit gibt es Sprengsätze an öffentlichen Orten, Schmuggel an den Grenzen sowie Korruption in der Wirtschaft und in der zivilen Verwaltung.
Sie, die Bevölkerung, sollten verlangen, dass alle gewählten Politiker und öffentlichen Bediensteten kristallklar machen, dass sie absolut keine Beziehungen zu dieser Unterwelt unterhalten. Wie ich bereits viele Male gesagt habe: Es wird keine Toleranz für das Verbrechen geben.
Morgen wird die Guardia di Finanza, die in Italien besondere Erfahrungen im Kampf gegen die Mafia erworben hat, in der neuen Finanz-Ermittlungseinheit, der FIU, ihre Arbeit gegen Korruption und Betrug aufnehmen.
Noch wichtiger, vergessenen wir nicht Ihre eigene KPS. Die Kosovo-Polizeibehörde ist eine Erfolgsgeschichte. Wir haben jetzt gut ausgebildete, ausgezeichnete Polizisten und Polizistinnen aus dem Kosovo, die sich neue Fähigkeiten und moderne Polizeimethoden angeeignet haben.
Ich werde jetzt die Kosovo-Polizei in die sensibelsten Bereiche des Kampfes gegen das schwere und organisierte Verbrechen einbeziehen, damit wir gemeinsam effizienter und wirkungsvoller sein können. Sie haben unser Vertauen verdient, und wir werden ihre Kenntnisse darüber, wie Unterwelt arbeitet, nutzen.
Lassen Sie mich auch an dieser Stelle etwas über die Presse sagen.
Mit der Pressefreiheit kommt die Verantwortung. Es gibt ausgezeichnete Journalisten im Kosovo, die viele gute, mutige und interessante Berichte und Kommentare über die Probleme Kosovos schreiben. Es ist auch die Aufgabe der Presse, kritisch zu sein, und ich schätze informierte Kritik. Artikel allerdings, die Hetzsprache enthalten und Spannungen anheizen, sind inakzeptabel. Daher werde ich Maßnahmen unterstützen, die von den zuständigen unabhängigen Organen gegen Hetzreden ergriffen werden, und ich werde dafür sorgen, dass alle Geldbußen oder Strafen auch vollstreckt werden.
Drittens: Multiethnizität
Warum muss das Kosovo zu einer wahrhaft multi-ethnischen Gesellschaft werden?
Ich sage Ihnen, warum. Die internationale Gemeinschaft kam in das Kosovo in einer beispiellosen Anstrengung zur Beendigung der ethnischen Unterdrückung durch Milosevic. Sie kam zur Verteidigung der fundamentalen Menschenrechte – zur Verteidigung der Schwachen gegen die Starken. Die Welt war voller Mitgefühl für diejenigen, die auf barbarischste Weise aus ihren Häusern vertrieben worden waren.
UNMIK und KFOR wurden entsandt, um zu helfen, eine Gesellschaft aufzubauen, die frei von der Unterdrückung der Vergangenheit ist. Wo die Werte, die hier zum Handeln geführt haben, hochgehalten werden. Sie wissen, das Kosovo braucht immer noch die Hilfe der internationalen Gemeinschaft, das Kosovo kann nicht allein auf sich gestellt vorankommen.
Also muss das Kosovo beweisen, dass diese ungeheure internationale Investition an Menschen und Ressourcen sich gelohnt hat. Es muss beweisen, dass eine Gesellschaft geschaffen wurde, in der die Kosovaner unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft in Sicherheit und Würde leben können.
Vergessen Sie nicht, dass Ihre Nachbarn im Kosovo dieselben Rechte haben wie Sie selbst. Sie müssen diejenigen Menschen wieder im Kosovo willkommen heißen, die sich zur Rückkehr entscheiden. Nur dann wird die internationale Gemeinschaft ihre Sympathien für Sie behalten, ihre Unterstützung fortsetzen und Sie in Europa willkommen heißen - wohin das Kosovo gehört.
Liebe Kosovaner,
Wie ich zu Anfang gesagt habe, das Jahr 2003 wird nicht leicht werden. Ich glaube jedoch, dass wir die vor uns liegenden Herausforderungen bewältigen können, wenn wir sie gemeinsam in Angriff nehmen. Und wenn es uns allen ernst dabei ist.
Wir haben keine Zeit für Schuldzuweisungen und Scheindebatten. Die Zeit für die Regelung des endgültigen Status des Kosovo wird kommen, aber nicht im Jahre 2003. In diesem Jahr müssen wir uns drei Prioritäten vornehmen.
Wir müssen die Wirtschaft fördern – um Ihren Kindern eine Zukunft zu geben.
Wir müssen das Verbrechen bekämpfen – um Ihren Familien Sicherheit zu geben.
Wir müssen eine multiethnische Gesellschaft schaffen, damit Sie alle in der Familie der europäischen Gesellschaften willkommen sind.
Ich bin bereit, dafür zu arbeiten, aber ich möchte das in Zusammenarbeit tun. Ich möchte soviel Verantwortung wie möglich an Institutionen übertragen, die bereit sind, ernsthaft für das Kosovo zu arbeiten.
Wenn wir, die UNMIK, die Institutionen des Kosovo und die Menschen des Kosovo unsere Ärmel hochkrempeln und gemeinsam arbeiten, bin ich zuversichtlich, dass wir es schaffen können.
In dieser Woche werde ich die Vorsitzenden der politischen Parteien einladen, um mein Konzept zu erläutern und ihre Unterstützung zu erhalten.
Am Ende jedoch wird das wichtigste Element die weitere Unterstützung von Ihnen sein - dem Volk von Kosovo.
Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen einen guten Abend. (MK)