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GesellschaftTürkei

Türkische LGBTQ+: Uns gibt es - trotz Verbot und Hass!

3. Juli 2025

Die türkische Regierung schränkt derzeit massiv Freiheiten ein. Besonders betroffen: die LGBTQ+-Community. Deren Existenz wird mit Verboten, Portalsperren und Festnahmen bedroht. Doch sie gibt nicht auf.

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Vorne ein Teilnehmer der Kundgebung, hinter ihm eine Gruppe mit Transparenten.
LGBTQ+ feiern trotz Verbot in der Türkei Bild: Dilara Acikgoz/AP Photo/picture alliance

Es war eine hoch emotionale Szene vor dem Justizpalast in Istanbul am vergangenen Sonntag: Zwei Männer, voller Ungeduld, liefen aufeinander zu, umarmten sich fest und verharrten einen kurzen Moment. Der großgewachsene Mann kämpfte vergeblich mit seinen Tränen und wischte sich immer wieder die Augen. Der zierlichere zeigte sich gelassen und wandte sich mit einem Lächeln auch an die wartende Gruppe. "Niemand darf uns LGBTQ+-Personen kriminalisieren", sagte er entschlossen.

Der ehemalige TV-Moderator Irfan Degirmenci, nun Politiker und Aktivist, engagiert sich für die Rechte von LGBTQ+. Hier sieht man ihn kurz vor seiner Festnahme am vergangenen Samstag
Der ehemalige TV-Moderator Irfan Degirmenci, nun Politiker und Aktivist, engagiert sich für die Rechte von LGBTQ+ in der TürkeiBild: Privat

Dieser Mann, Ende 40 und mit grauen Haaren, ist Irfan Degirmenci, ein bekannter türkischer TV-Moderator. Mehr als ein Vierteljahrhundert präsentierte er Nachrichtensendungen, bis er sich letztes Jahr outete und in die Politik wechselte. Obwohl er die Wahl zum Bürgermeister für die Türkische Arbeiterpartei (TIP) in der Hauptstadt Ankara verlor, setzt er sein politisches Engagement fort. Vergangenen Samstag wurde er zusammen mit 41 weiteren Personen vorübergehend festgenommen, während er auf einer LGBTQ+-Veranstaltung im Rahmen der Istanbuler Pride-Woche eine Rede hielt.

Verbote und polizeiliche Maßnahmen

Zuvor hatte sich Istanbuls Gouverneur Davut Gül bereits drohend geäußert. Auf X schrieb er, dass "manche marginalen Gruppen" zur Versammlung und Kundgebung aufgerufen hätten. Gemeint war die LGBTQ+-Community. Diese Aufrufe, so Gouverneur Gül weiter, seien "eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die türkische Familie und moralische Werte" und würden nicht geduldet. Wer sich nicht an Veranstaltungsverbote halte, müsse mit polizeilichen Maßnahmen rechnen.

Tatsächlich gingen die Sicherheitskräfte schon am nächsten Tag hart gegen die Teilnehmer der angekündigten und nicht genehmigten Istanbul Pride-Kundgebung vor. Mehr als 50 Demonstrierende wurden festgesetzt. Trotz Drohungen gingen sie auf die Straße und skandierten laut: "Wir bestehen aufs Leben!"

Mehrere Polizisten fesseln die am Straßenrand festgehaltenen Teilnehmern der diesjährigen LGBTQ+-Parade in Istanbul mit Handschellen.
Bei der diesjährigen Istanbul Pride wurden mehr als 50 Teilnehmer festgenommenBild: Dilara Acikgoz/AP Photo/picture alliance

"Wir bestehen aufs Leben!" - Das Motto 2025

"Wir bestehen aufs Leben!", zu Türkisch "Yaşamda Israr" ist das Motto des diesjährigen Pride-Monats. Die LGBTQ+-Community will damit betonen, dass sie trotz Repressionen und Einschüchterungsversuchen weiter existiert und aktiv bleibt.

Wie viel Mut das erfordert, zeigte sich unter anderem Mitte Juni: Vor dem Beginn der Pride-Woche wurden auf Anordnung eines Gerichtes Homepage und Social-Media-Kanäle des Nachrichtenmagazins KAOS GL gesperrt - dem ältesten Magazin mit Fokus auf die LGBTQ+-Community. Es berichtet seit 1994 über Diskriminierung und Gewalt gegen diese Gruppe und setzt sich für deren Rechte ein. Mittlerweile existiert auch ein gleichnamiger gemeinnütziger Verein, der Leistungen von der Meldehotline für Hassverbrechen über Beratung bis hin zur Aufklärung anbietet.

Für Yildiz Tar, Chefredakteur von KAOS GL, ist die verhängte Sperre gegen ihr Portal nicht nur Zensur, sondern Teil eines systematischen Mechanismus, der die Existenz der LGBTQ+-Gemeinschaft zu vernichten versuche.

Yildiz Tar, Chefredakteur von KAOS GL vor einer Wand mit Graffiti
Yildiz Tar, Chefredakteur von KAOS GLBild: privat

Dämonisierung der LGBTQ+-Community

Auch der Verein ÜniKuir berichtet von massiven Hasskampagnen. Er setzt sich für die Gleichberechtigung und Teilhabe von LGBTQ+-Personen an Hochschulen ein. Seinem aktuellen Bericht zufolge haben sich 41 Abgeordnete des türkischen Parlaments zwischen Juni 2023 und September 2024 offen gegen die Rechte von LGBTQ+ positioniert. Vor allem Abgeordnete des Regierungsbündnisses der islamisch-konservativen AKP und der ultranationalistischen MHP stellten LGBTQ+-Personen mit Worten wie "abartig" oder "pervers" als globale Gefahr dar.

Die verbalen Attacken hätten massiv zugenommen, sagt ÜniKuir. Morde an Transfrauen und Hassverbrechen, vor allem in den großen Metropolen wie Istanbul, Izmir und Ankara, sowie andere Straftaten gegen LGBTQ+Personen hätten es nicht auf die Tagesordnung des Parlaments geschafft.

"Auch die Medien berichten kaum über Hassverbrechen gegen LGBTQ+ oder Veranstaltungen und Pride-Märsche", klagt Yildiz Tar von KAOS GL. In Filmen und Serien kämen diese gar nicht vor. Tar betont, wie wichtig daher Nachrichtenportale wie das ihre sind. "Stattdessen würden feindselige Rhetorik, gezielte verbale Angriffe und Diskriminierung schärfer", fügt er hinzu. Es habe eine Dimension angenommen, die sich nicht mit Vorurteilen oder Unwissen erklären lasse.

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bei einer Pressekonferenz, rechts und links von ihm türkische Fahnen in Rot und weiß
Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan Bild: Emin Sansar/Anadolu Agency/picture alliance

Politik ist mitschuldig an gefährlicher Stimmung

Beobachter sind zudem der festen Überzeugung, dass die Erklärung des Jahres 2025 zum "Jahr der Familie" kein Zufall sei.

Der islamisch-konservative Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan betonte bei der Eröffnungsfeier, dass seine Regierung Familien und Kinder um jeden Preis schützen wolle. Die LGBTQ+ bezeichnete er als eine große Gefahr für die Familie. Außerdem behauptete er, digitale Plattformen und Beiträge böten LGBTQ+-Interessen großen Raum.

Für den Journalisten Irfan Degirmenci beginnt die Gewalt mit der Sprache der Staatsspitze: "Wir werden abartig, pervers genannt", erinnert er nochmal. LGBTQ+-Personen würden täglich von der Religionsbehörde Diyanet, vom Familien- oder Bildungsministerium sowie von Gouverneuren entmenschlicht.

Die Rechtsanwältin Nilda Balta bestätigt dies: Es gebe viele beunruhigende Entwicklungen im Land. Als Beispiel nennt sie einen Erlass des Familienministeriums, von Begriffen wie Geschlechtergerechtigkeit, LGBTQ+ und anderen, die dem Familienbild schaden würden, abzusehen.

Türkei: Queere Menschen feiern trotz Drohungen

Andere wichtige Probleme geraten in den Hintergrund

Semih Özkarakas, der für eine gemeinnützige Organisation arbeitet, beschreibt die derzeitige Stimmung im Land als "scharfe Handgranate", die kurz vor der Explosion stehe. "Wir fühlen uns als LGBTQ+ nur so sicher, wie sich ein Kurde, ein Alevit, ein Flüchtling oder eine Frau sicher fühlt. So sicher, oder besser gesagt, so unsicher." Er betont, dass man wegen alldem noch nicht einmal über andere Probleme zu sprechen komme. Eigentlich sollte man über die Armut von LGBTQ+Personen sprechen, über Wohnungsnot, mangelnden Zugang zur Gesundheitsversorgung und Bildung, über häusliche Gewalt, den Missbrauch und Zwangsprostitution. Stattdessen rede man über die Festnahmen, Verbote der Veranstaltungen und Sperren ihrer Portale.

Mitarbeit: Pelin Ünker

Elmas Topcu | Journalistin
Elmas Topcu Reporterin und Redakteurin mit Blick auf die Türkei und deutsch-türkische Beziehungen@topcuelmas