Turkmenistan erzielt angeblich enormes Wirtschaftswachstum
9. September 2004Bonn, 8.9.2004, DW-RADIO / Russisch
Zwischen Januar und August 2004 ist die Wirtschaft Turkmenistan deutlich gewachsen. Das geht aus den offiziellen Angaben zur Wirtschaftslage im Lande hervor, die vom Apparat des Präsidenten Saparmurat Nijasow vorgelegt wurden.
Den offiziellen Angaben zufolge ist das Bruttoinlandsprodukt Turkmenistans in den vergangenen acht Monaten um mehr als 21 Prozent gestiegen, wobei das Wachstum in der Landwirtschaft 20,5 Prozent und in der Industrie fast 23 Prozent betrug. Am besten entwickelt sich dem offiziellen Aschgabad zufolge die Textilindustrie sowie die Erdöl- und Erdgasverarbeitung. Der Umsatz im Einzelhandel sei um fast ein Drittel gestiegen. Laut Presseberichten beauftragte nun Präsident Saparmurat Nijasow die Regierung, bis zum 1. Oktober zu prüfen, ob es möglich ist, ab dem 1. Januar 2005 die Gehälter aller Beschäftigten, aber auch die Renten und Stipendien um 50 Prozent anzuheben.
Erfahrene turkmenische Ökonomen sehen aber die Erklärungen des Präsidialamtes über das deutliche Wachstum des turkmenischen Bruttoinlandsprodukts skeptisch. Der ehemalige turkmenische Vizepremier für Wirtschaftsfragen und heutige Vorsitzende der Oppositionsbewegung "Watan", Chudajberdy Orasow, sagte in diesem Zusammenhang folgendes.
Chudajberdy Orasow: In den Angaben zur Wirtschaft der GUS-Länder des Statistischen Komitees der GUS sind in der Rubrik Turkmenistan überall Striche. Es fehlen auch Angaben zum Umfang des Bruttoinlandsprodukts. Wissen Sie, für Saparmurat Nijasow ist die GUS keine Autorität. Turkmenistan macht ihr gegenüber keine Angaben. Es gab sogar einst Zahlen aus dem vom Bürgerkrieg heimgesuchten Tadschikistan. Und aus dem blühenden Turkmenistan kommen keine Angaben. Wenn man sich Berichte über die Wirtschaftslage in Europa für das Jahr 2003 anschaut, dann kann man dort gewisse Angaben über die Dynamik des tatsächlichen Bruttoninlandsprodukts Turkmenistans finden. Wichtig ist aber, dass darunter vermerkt ist: ‚Die Zahlen zu Turkmenistan müssen mit Vorsicht verwendet werden, da die Verlässlichkeit dieser Zahlen zu bezweifeln ist.‘ Turkmenistan ist das einzige Land mit einem solchen Vermerk. Ich möchte mit aller Verantwortung sagen: Alle diese Zahlen, die von Saparmurat Nijasow genannt werden, haben keine reale Grundlage. In diesem Fall sind die Angaben über das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts um 21 Prozent auch eine Fälschung. Die Angabe tatsächlicher makroökonomischer Zahlen gilt als schreckliches Verbrechen und entsprechende Autoren werden zu Volksfeinden erklärt, denen dann lange Haftstrafen drohen. Hunderte ausgezeichnete Wirtschaftswissenschaftler sitzen entweder in Gefängnissen oder haben das Land verlassen.
Frage: Wie lauten Ihrer Meinung nach die tatsächlichen heutigen turkmenischen Wirtschaftszahlen?
Chudajberdy Orasow: Vor wenigen Tagen sagte Nijasow auf einer Sitzung des Ministerkabinetts, man müsse den Staatshaushalt erstellen. Der Staatshaushalt solle umgerechnet etwa 12 Milliarden US-Dollar betragen. Meiner Meinung nach liegt das, was Nijasow nennt, um das 20fache über den realen Zahlen.
Frage: Sie sagen, dass die Wirtschaftszahlen, die der Präsident Turkmenistans vorlegt, nicht der Wirklichkeit entsprechen. Es werden aber konkrete Zahlen genannt. Nach welchem Prinzip werden diese Zahlen erstellt?
Chudajberdy Orasow: In Turkmenistan hat sich diese Situation nicht innerhalb eines Tages ergeben. Anfangs hatte Nijasow versucht, den Menschen, die sich mit Statistiken befassen, zu signalisieren, sie sollten die Zahlen schönen, aber damals hatte er noch nicht versucht, ihnen direkt zu diktieren, wie die Zahlen aussehen sollen. Offen begann Nijasow damit erst, als er sich mit den Taliban annäherte und die Beziehungen zur zivilisierten Welt abbrach. Er hatte sich viel von der Freundschaft mit den Taliban erhofft. Deswegen beachten Sie bitte: In den Jahren der Unabhängigkeit wurden vier oder fünf ausgezeichnete Wirtschaftswissenschaftler vom Posten des Leiters des staatlichen Statistik-Komitees enthoben. Nach 1998 begann Nijasow selbst, die Zahlen zu diktieren, die er braucht. Wie werden sie erstellt? Wie hoch liegt das Wachstum in den GUS-Staaten Kasachstan oder Russland? Sagen wir mal bei 12 Prozent. Er sagt dann: Bei uns müssen es 16 Prozent sein. Und dann versuchen alle die statistischen Angaben Turkmenistans an diese 16 Prozent anzugleichen.
Einer der bekanntesten Wirtschaftswissenschaftler Turkmenistans, der ungenannt bleiben möchte, sagte gegenüber dem Korrespondenten der Deutschen Welle, Oras Saryjew, dass von einem solchen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts, das laut offiziellen Angaben in Turkmenistan herrsche, solch entwickelte Länder wie beispielsweise Japan nur träumen könnten. In Wirklichkeit gebe es in der turkmenischen Industrie praktisch kein Wachstum und die Landwirtschaft stecke aus strukturellen Gründen in einer tiefen Rezession. Zu beobachten sei ein Zerfall des mit dem Karakum-Kanal verbundenen Bewässerungssystems. Deswegen könne mit dieser Wasserquelle nur noch ein Drittel des Bedarfs der Felder gedeckt werden. Die Saatflächen würden aus diesem Grund ständig verkleinert. Dies betreffe unter anderem auch die Baumwollfelder. (MO)