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PolitikTunesien

Tunesien: Umstrittener Prozess gegen Kritiker und Aktivisten

9. April 2025

In Tunesien sollen diese Woche Anhörungen zu dem Prozess beginnen. Rund 40 Angeklagte müssen sich wegen angeblicher Verschwörung gegen die Staatssicherheit verantworten. Die UN üben deutlich Kritik. Wie reagiert Europa?

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Staatspräsident Kais Saied während einer Sitzung der Nationalversammlung, Oktober 2024
Harter Kurs gegen die Opposition: Staatspräsident Kais SaiedBild: FETHI BELAID/AFP/Getty Images

Für rund 40 Politiker, Journalisten, Rechtsanwälte und Vertreter der Zivilgesellschaft soll an diesem Freitag in Tunis die Anhörung in einem umfangreichen Prozess beginnen. Angeklagt sind sie der "Verschwörung gegen die innere und äußere Sicherheit des Staates" sowie der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung". Auf derartige Vergehen stehen in Tunesien hohe Haftstrafen. Auch die Todesstrafe ist ein theoretisch denkbares, wenngleich als eher unwahrscheinlich geltendes Urteil. Diese wurde in Tunesien seit Anfang der 1990er Jahre zwar nicht mehr vollstreckt - aber auch nie offiziell abgeschafft.

Zu den Angeklagten zählen etwa der Chef der Partei Al Joumhouri, Issam Chebbi, der Jurist Jawhar Ben Mbarek und ein ehemaliger hochrangiger Vertreter der als gemäßigt islamistisch geltenden Partei Ennahdha, Abdelhamid Jelassi.

Ebenfalls angeklagt sind Aktivisten, Journalisten und - in Abwesenheit - sogar ein Philosoph aus Frankreich: Bernard-Henri Lévy. Einige Angeklagte halten sich wie er im Ausland auf. Manche wurden vorzeitig aus der Untersuchungshaft entlassen.

Zahlreiche Menschen demonstrieren auf einer Kundgebung für die Pressefreiheit, Tunis, Mai 2023
Kundgebung für Pressefreiheit in Tunis, Mai 2023Bild: Yassine Gaidi/AA/picture alliance

Kritik der Vereinten Nationen 

Der Prozess sollte eigentlich schon im März beginnen, wurde jedoch verschoben. Der Sprecher des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte, Thameen Al-Kheetan, äußerte in einer Pressemitteilung anlässlich der Bekanntmachung der Anklage bereits im Februar deutliche Kritik an der Menschenrechtslage in Tunesien. Die tunesischen Behörden müssten "der Verhaftung, willkürlichen Inhaftierung und Inhaftierung von Dutzenden von Menschenrechtsverteidigern, Anwälten, Journalisten, Aktivisten und Politikern" ein Ende setzen, forderte er. Viele der Angeklagten sähen sich "weit gefassten und vagen Anschuldigungen" gegenüber, die offenbar allein darauf zurückzuführen seien, dass sie ihre grundlegenden Rechte und Freiheiten in Anspruch nähmen. 

Das tunesische Außenministerium reagierte seinerzeit auf seiner offiziellen Facebook-Seite schnell und kategorisch auf die Kritik der UN. Die Anklage habe nichts mit einer Einschränkung von Rede- und Meinungsfreiheit zu tun, hieß es dort. Tunesien bleibe rechtsstaatlichen Prinzipien verpflichtet. 

Die Nationalflagge auf dem Justizpalast in Tunis
Die Nationalflagge auf dem Justizpalast in Tunis. Experten zweifeln an der rechtsstaatlichen Korrektheit des anstehenden Prozesses gegen Politiker, Anwälte und AktivistenBild: Thierry Monasse/dpa/picture alliance

"Demokratische Errungenschaften werden kassiert"

Die Erklärung des Außenministeriums überzeugt freilich nicht alle, auch im Land selbst nicht. Es liege auf der Hand, dass die tunesischen Behörden unter der Herrschaft Präsident Kais Saieds seit vielen Jahren missbräuchliche Strafverfolgung und Untersuchungshaft als repressive Mittel einsetzten, sagt Bassam Khawaja von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW), im Gespräch mit der DW. Die seit dem Revolutionsjahr 2011 erzielten demokratischen Errungenschaften wie auch die menschenrechtlichen Fortschritte würden nach und nach kassiert. "Der derzeit laufende Verschwörungsprozess ist eine der dramatischsten Arten, mit denen die Regierung rechtliche Instrumente gegen politische Gegner und Aktivisten einsetzt", so Khawaja, der den Prozess in Tunis für HRW verfolgt.

Nach Recherchen und Einschätzung von HRW befänden sich derzeit rund 50 Personen in politisch motivierter Untersuchungshaft, so Khawaja: "Die tunesische Regierung verfolgt zunehmend prominente Kritiker. Jegliche Verpflichtung den Menschenrechten gegenüber hat sie aufgegeben."

Bereits vor dem derzeitigen Prozess hat die tunesische Justiz in anderen Verfahren harte Urteile gefällt. Anfang Februar etwa verhängte ein Gericht über Rached Ghannouchi, den Chef der Ennahda-Partei und ehemaligen Parlamentspräsidenten, wegen "Gefährdung der Staatssicherheit" eine 22-jährige Haftstrafe.

Er gehe nicht davon aus, dass es in dem nun laufenden Prozess bereits in der ersten Sitzung zu Plädoyers kommen werde, sagt Riad Chaibi, politischer Berater der Ennahda-Partei. Seine Partei habe gegen das formale Verfahren des Prozesses Einspruch eingelegt und beantragt, die Inhaftierten freizulassen. "Aber alle Anträge wurden abgelehnt", so Chaibi zur DW. "Jetzt beantragen wir, dass der Prozess als politisches Verfahren gewertet wird - und nicht als Prozess, der sich gegen Terroristen richtet."

Rached Ghannouchi, der Führer der gemäßigt islamistischen Ennahda-Partei. Er wurde im februar dieses Jahres zu 22 Jahren Haft verurteilt
Bereits im Februar zu 22 Jahren Haft verurteilt: Ex-Parlamentspräsident Rached Ghannouchi, Führer der als gemäßigt islamistisch geltenden Ennahda-ParteiBild: Hasan Mrad/DeFodi Images/picture alliance

Europas Einfluss begrenzt?

Der derzeitige Prozess findet vor dem Hintergrund erheblicher sozialer und ökonomischer Probleme in Tunesien statt. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf lag Daten des Wirtschaftsinformationsdienstes Germany Trade and Invest (gtai) zufolge bei 4267 US-Dollar (3908 Euro) und die Staatsverschuldung bei gut 83 Prozent des BIP. Die offizielle Arbeitslosenquote lag 2023 bei 16,4 Prozent - inoffiziell ist von einer deutlich höheren Zahl auszugehen. Immer wieder kommt es zu harten Maßnahmen gegen Oppositionelle und Aktivisten.

Aus ihrer Sicht sei der Prozess ein politisches Ablenkungsmanöver zum Zweck innenpolitischer Stabilisierung, sagt die Tunesien-Expertin Maria Josua vom German Institute for Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg. Damit wolle die Regierung über Probleme wie Inflation, Arbeitslosigkeit und Korruption hinwegtäuschen, urteilt Josua, die von einem "Verschwörungsnarrativ" spricht: "Zum einen geht es darum, die nationale Souveränität zu betonen - und zum anderen darum, die Opposition einzuschüchtern und im Keim zu ersticken."

Dass Europa sich rechtstaatlich engagieren könne, sei eher zweifelhaft, sagt Josua. "Die EU hat mit Tunesien ja ein Migrationsabkommen geschlossen. In anderen Worten: Die EU hat konkrete Interessen, die sie nur zusammen mit der tunesischen Regierung erreichen kann." Zugleich versuche die tunesische Regierung, sich als politisch autonom und unabhängig darzustellen, so die Expertin: "Beides trägt dazu bei, den menschenrechtlichen Einfluss Europas zu begrenzen."

Mitarbeit: Tarak Guizani, Tunis

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika