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GesellschaftDeutschland

Trauma: Wenn Betroffene sexualisierter Gewalt Eltern werden

Helen Whittle
9. März 2025

Was bedeutet es für Betroffene von sexuellem Kindesmissbrauch, selbst Kinder zu bekommen und Verantwortung für sie zu übernehmen? Das ist Schwerpunkt einer neuen Studie.

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Ein Mädchen hält eine Papier-Kette mit zwei Erwachsenen und einem Kind in der Mitte in der Hand
Viele Überlebende von sexuellem Kindesmissbrauch befürchten, dass sie die Last ihres Traumas an ihre Kinder weitergebenBild: Depositphotos/IMAGO

"Viele Überlebende machen sich wirklich Gedanken darüber, ob sie Kinder haben wollen oder nicht, weil sie solche Angst haben: Was ist, wenn es auch meinen Kindern passiert? Was ist, wenn ich meine Kinder nicht ausreichend schützen kann?" Das sagt Ava Anna Johannson, eine der Betroffenen, die an der Studie beteiligt waren, die von der "Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs" in Deutschland in Auftrag gegeben wurde.

Johannson hat es selbst erlebt - oder wie Betroffene oft sagen - sie hat das überlebt: Kindesmissbrauchsexualisierte Gewalt gegen Kinder. Sie wuchs in Norddeutschland auf und wurde ab ihrem dritten Lebensjahr von ihrem Großvater und anderen Familienmitgliedern sexuell missbraucht. Nach einer schwierigen Jugend mit Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken schloss Johannson die Schule ab. Sie studierte, heiratete und bekam Kinder.

Blick in das Gesicht eines schlafenden Babys, seine kleine Hand schließt sich um den Finder seiner Mutter
Für Frauen, die selbst als Kind sexuelle Gewalt erlebt haben, kann die Geburt eigener Kinder viele Ängste auslösenBild: Marcus Brandt/dpa/picture alliance

"Als meine Kinder neun und elf Jahre alt waren, brach mein Leben auseinander, da mich die Erinnerungen an den Missbrauch überrollt haben. Es gab etliche Aufenthalte in der Psychiatrie und Jahre, in denen ich vor allem mit der Bewältigung der Folgen beschäftigt war", berichtet sie. Vor allem ihre Kinder hätten darunter gelitten: "Sexualisierte Gewalt gegen Kinder hat lebenslange Auswirkungen für die Betroffenen und auch für ihre Kinder.“

Die Autorinnen befragten mehr als 600 Betroffene von sexuellem Missbrauch in der Kindheit, 84 Prozent davon waren Frauen. "Traumatische Erfahrungen können an die nächste Generation weitergegeben werden, aber das ist nicht zwangsläufig der Fall. Die Gefahr ist nicht, dass die Eltern Gewalt erlebt haben - die Gefahr ist, dass sie nicht genügend Unterstützung bekommen und allein gelassen werden", sagt die Soziologin Barbara Kavemann, eine der Studien-Autorinnen, der DW.

Geburt erinnert Betroffene an Missbrauchserfahrung 

Viele Befragte nannten in diesem Zusammenhang das Thema Geburt. Auch bei Ava Anna Johannson wurde das Trauma des früheren Missbrauchs wieder lebendig, als sie ihr erstes Kind zur Welt brachte. Ein medizinischer Eingriff zur Erweiterung des Geburtskanals, der sogenannte Dammschnitt, war besonders traumatisch. "Das hat mich total schockiert", erzählt sie. "Ich hatte das starke Gefühl, wie ein Objekt behandelt zu werden, dass es absolut nicht um mich und meine Bedürfnisse ging, dass über mich gesprochen wurde und nicht mit mir."

Johansson beschreibt ein Gefühl der Ohnmacht und Respektlosigkeit bei der Geburt, von dem auch viele Frauen ohne Erfahrungen sexueller Gewalt berichten. "Ich wurde aufgeschnitten, um das Baby herauszupressen, ohne dass ich gewarnt wurde. Ich denke, da gibt es eine starke Parallele zum Missbrauch, dieses 'Einfach-nicht-darüber-sprechen-dürfen'", erklärt sie. "Man hat sich zu freuen, weil das Kind gesund zur Welt gekommen ist."

Soziologin Barbara Kavemann fordert, dass Pflegekräfte und Hebammen, die oftmals die Vorgeschichte der Betroffenen nicht kennen, geschult werden: "Es gibt unglaublich wenig Sensibilität bei der Geburt und das ist ein generelles Thema. Das betrifft nicht nur Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, aber die betrifft es besonders."

Überlebende sexueller Gewalt brauchen mehr Unterstützung

Vor allem bei den befragten Männern der Studie ist die Angst groß, selbst zum Täter zu werden. Das halte sie einerseits sogar davon ab, Kinder zu bekommen, andererseits aber auch davon, dringend benötigte Unterstützung zu suchen. "Sie haben Angst, bei Beratungsstellen, Jugendämtern und anderen Einrichtungen um Unterstützung zu bitten, weil sie als Gewaltopfer stigmatisiert werden und man ihnen sagt, sie könnten sich nicht um ihre Kinder kümmern", erläutert Kavemann.

Ein Kind, das wir von hinten sehen, lehnt sich auf eine Schaukel
Überlebende von sexuellem Kindesmissbrauch müssen oft den Alltag mit Kindern ohne familiäre Unterstützung meisternBild: Ute Grabowsky/photothek/IMAGO

Wichtig sei auch, dass Eltern ihren Kindern erklären, was in der Vergangenheit passiert sei, und dass sie Fragen beantworten könnten. "Kinder können mit diesen Dingen umgehen, wenn sie wissen und sehen, dass sie und ihre Eltern ein Recht auf Unterstützung haben, und vor allem, dass sie wissen, dass es nicht ihre Schuld ist", sagt sie.

Johansson stimmt zu. Sie sagt, dass sich für sie viel verändert habe, als sie endlich mit ihren Kindern darüber sprechen konnte, was ihr selbst als Kind widerfahren war. "Es begann damit, dass ich ihnen sagte, dass es mir nicht gut ging, dass es einen Grund dafür gab und dass ich Unterstützung gesucht habe. Das war für mich immer das Wichtigste, dass meine Kinder sich keine Sorgen um mich machen müssen, dass sie sich nicht schuldig fühlen, und dass ich Hilfe bekomme."

Sexueller Missbrauch an 54 Kindern und Jugendlichen jeden Tag

Die vom Bundestag eingesetzte "Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs" untersucht Ausmaß, Art und Folgen sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR seit 2016. Die Kommission führt Befragungen durch und veröffentlicht Berichte mit Empfehlungen zur Prävention und zur angemessenen Anerkennung der Überlebenden.

Genaue Informationen über die Verbreitung von sexuellem Kindesmissbrauch in Deutschland sind wegen unzureichender Daten nicht verfügbar. Die Weltgesundheitsorganisation hat Deutschland aufgefordert, diese Lücke zu schließen, um das Problem stärker in die Öffentlichkeit zu rücken. Die neuesten Statistiken des Bundeskriminalamtes gehen davon aus, dass in Deutschland täglich 54 Kinder und Jugendliche von sexuellem Missbrauchs betroffen sind.

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Ein großes Problem sieht die Soziologin Kavemann darin, dass sexuellem Kindesmissbrauch in Familien im Vergleich zu Fällen in Institutionen - wie etwa der katholischen Kirche - zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Vor allem vor dem Hintergrund, dass sich viele Betroffene aufgrund ihrer Erfahrungen gegen Kinder entscheiden. Und andere aufgrund der von den Tätern verursachten körperlichen Schäden gar keine Kinder bekommen können.

Ava Anna Johannson, die noch immer an den Folgen des an ihr verübten Missbrauchs zu leiden hat, ist deshalb besonders stolz, sich ins Leben zurück gekämpft zu haben. "Ich hatte einen schwierigen Start ins Leben, aber ich habe das Beste daraus gemacht und ich glaube, ich konnte meine Kinder gut begleiten."

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.