Tanzen als Therapie: Rio de Janeiros "Baile Charme"
7. März 2025Fernab von Copacabana und Christusstatue, unter einer viel befahrenen Autobahnbrücke im Arbeiterviertel Madureira, tanzen Menschen synchron nach einer festgelegten Choreographie. Ein Schritt nach vorn, eine halbe Drehung auf dem Absatz und ein Hüftschwung erst nach rechts, dann nach links.
Heute darf ich dabei sein - an der Seite von Eduardo Gonçalves. Hier, unter der Brücke in Madureira, weiß jeder, wer Eduardo ist. Der Choreograph hat die Tanzschritte - portugiesisch "passinho" - zum Song "Escapism" der britischen Sängerin Raye kreiert.
Jeden Samstagabend kommen hier tausende Menschen aus Rios Black & Brown Community zu den sogenannten Baile Charme-Partys (Deutsch etwa: Charmanter Tanz, Anm. d. Red.) zusammen, um zu den Klängen von R&B und vorbeirauschenden Linienbussen zu tanzen. Ein Phänomen, das außerhalb Brasiliens - sonst eher für Samba und Funk bekannt - bisher nur wenig Beachtung gefunden hat.
Ein Ort für Schwarze Kultur
In dieser heißen Sommernacht tupfen sich die Tänzerinnen und Tänzer mit Handtüchern, die lässig über ihren Schultern hängen, den Schweiß aus den Gesichtern. "Seit 1994 kommen hier jedes Wochenende bis zu 5.000 Menschen zusammen", erzählt mir Eduardo.
Der Baile Charme in Madureira ist nicht nur der älteste, sondern auch der größte seiner Art. 2013 wurde er vom damaligen Bürgermeister Eduardo Paes zum immateriellen Kulturgut der Stadt erklärt.
Eduardo sagt, seine Lieblingsfarbe sei Lila, aber heute trägt er schwarze Sneaker, schwarze Shorts und ein schwarzes T-Shirt. Gemeinsam bahnen wir uns den Weg durch die Menschenmenge, über den Dancefloor bis zu den Wänden, die das Areal einzäunen.
Hier macht Eduardo Halt und zeigt mir stolz die Graffiti an den Wänden. Früher mal schmucklos und grau, heute ein Open-Air-Museum mit den aufgesprühten Ikonen der Schwarzen Kultur: Tupac, Michael Jackson, Grace Jones, Negra Li und viele mehr.
Geschichte, Musik und Bewegung
Die Charme-Bewegung, bei der alle synchron nach derselben Choreographie tanzen, begann um die 1980er-Jahre - als entschleunigte Tanzalternative innerhalb der Black Music-Szene. Damals gründeten professionelle Tänzer und Partygäste in den Vororten Rio de Janeiros Tanzkollektive - mit eigenen Choreographien, beeinflusst von Streetdance, Samba, Hip-Hop und Gesellschaftstanz.
Der Name "Baile Charme" geht auf DJ Corello zurück. Er soll auf einem Baile im März 1980 im Vorort Méier ankündigt haben: "Die Stunde des Charmes ist gekommen, bewegt eure Körper ganz langsam."
Lange vor TikTok und Instagram gingen die Choreographien - wie man heute sagen würde - "viral". Es gebe kein Erfolgsrezept für einen "passinho", eine Tanzschrittfolge, erklärt Eduardo. "Wenn den Leuten ein passinho gefällt, tanzen sie ihn und die Choreo verbreitet sich - Gott sei Dank!"
Als er sich die Choreographie zur aktuellen Baile Charme-Hymne "Escapism" ausdachte, stand Eduardo gerade mit Kopfhörern auf den Ohren in einer überfüllten U-Bahn. Das war 2023. Eigentlich wollte er nur einen "passinho" für sich und seine Freunde kreieren, zu dem sie dann auf den Partys tanzen können. Doch es kam anders.
Eduardos "passinho" kam so gut an, dass immer mehr Menschen ihn lernten. Heute gehört er zu den bekanntesten Choreographien in der Charme-Szene. Mittlerweile tanzen ihn die Menschen nicht nur in Rio, sondern auch in São Paulo, Brasília oder Minas Gerais.
"Hier werden Geschichten geschrieben"
An seine erste Baile-Charme-Party kann er sich noch genau erinnern. Das war 1999, da war er noch minderjährig. Seinen streng-christlichen Eltern erzählte er, er würde bei einem Schulkameraden übernachten. Mit einem gefälschten Schülerausweis, auf dem eine fünf sich in eine acht verwandelt hatte, ging er auf die Party.
"Es war dieses Einatmen von Black Culture, wie man es aus Filmen kennt", erinnert er sich. "Wunderschöne, gut angezogene Menschen, die tanzen… Mein Gott, das war alles, was ich wollte!"
Seitdem findet man Eduardo regelmäßig beim Baile Charme in Madureira. Mit dem Tanz verdient er mittlerweile auch seinen Lebensunterhalt. Er gibt Unterricht, choreographiert und tritt regelmäßig auf. Er ist Leiter eines sozialen Projekts, das kostenlose Charme-Tanzstunden anbietet. Hier bringt er genau den Menschen, die samstags in der ersten Reihe tanzen, seine "passinhos" bei.
Für Eduardo ist der Baile unter der Brücke heute viel mehr als eine Party. "Das hier ist zu einer Therapie geworden. Hier kommen Menschen zum Tanzen hin, die Depressionen haben. Hier werden Freundschaften und Tanzgruppen gebildet, Paare lernen sich kennen… Hier werden Geschichten geschrieben", sagt er.
Mit diesem Gefühl ist Eduardo nicht alleine. Viele, mit denen ich hier spreche, erzählen mir davon, wie der Dancefloor unter der Brücke ihr Leben verändert hat.
Einer von ihnen ist Siton Santos. Ich filme ihn, während er abseits der Tanzfläche seinen Körper zur Musik bewegt. Tagsüber arbeitet Siton in einer Keksfabrik, abends tanzt er, selbstvergessen und mit leuchtenden Augen.
Dabei war Tanzeneigentlich nie Sitons Ding. Es war seine Mutter, die ihn schon als Kind zu Charme-Partys mitnahm. Als sie starb, war er gerade mal 18 Jahre alt und fiel in eine schwere Depression.
Unter der Brücke in Madureira hat er Trost gefunden. "Man ist hier von Menschen umgeben, die einfach nur tanzen und die Probleme des Alltags vergessen wollen. Wenn ich tanze, fühlt es sich so an, als wäre meine Mutter hier bei mir, tanzend und lächelnd."
Eine Choreo erobert eine Subkultur
Gegen zwei Uhr morgens ist es endlich so weit. DJ Michell spielt den Song, auf den alle warten. Eduardo tippt mir vorsichtig auf die Schulter: "Escapism." Als der Beat einsetzt, erwecken hunderte Menschen Eduardos "passinho" vor meinen Augen zum Leben, vorne die Erfahrenen, hinten die Lernenden.
Wie sich das wohl anfühlen muss, wenn eine Choreo, die man sich zwischen Terminen in der U-Bahn ausgedacht hat, eine ganze Subkultur erobert? Eduardo beobachtet die tanzende Menge, er schüttelt ungläubig den Kopf. "Diese Reichweite hätte ich mir niemals träumen lassen."