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Sinti und Roma in Deutschland: Diskriminierung nimmt zu

23. Juni 2025

Im aktuellen Jahresbericht 2024 über Antiziganismus in Deutschland stehen alarmierende Zahlen. Auch die Rolle der Medien wird kritisch beleuchtet. Kleinere Erfolge gibt es aber auch.

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Ein etwa zehnjähriges Mädchen mit einem farbenfrohen Umhang hält ein an einem Holzstab befestigtes buntes Pappschild in die Höhe. Auf rosa Grund steht in gelben Buchstaben das von schwarzen Sternen eingerahmte Wort "Romaday-Parade".
Der Romaday findet jedes Jahr am 8. April statt: Roma und Sinti zeigen, wie hier in Berlin, stolz ihre Herkunft und hoffen auf mehr AnerkennungBild: Thomas Bartilla/Geisler-Fotopress/picture alliance

Vorurteile, Diskriminierung, Rassismus – Sinti und Roma sind davon weltweit besonders stark betroffen. Um zu dokumentieren, welche Dimension dieses Phänomen in Deutschland hat, gibt es die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA). Im jetzt in Berlin vorgestellten Jahresbericht 2024 wurden 1678 Fälle von Beleidigungen bis hin zu Körperverletzungen registriert.

In der ersten Bilanz für das Jahr 2022 lag die Zahl mit 621 deutlich niedriger. "Die in diesem Bericht dokumentierten Vorfälle zeigen deutlich, dass verbale Stigmatisierung und antiziganistische Propaganda den Boden bereiten für Diskriminierung und für Angriffe bis hin zu lebensbedrohlicher Gewalt", schreibt Mehmet Daimagüler im Vorwort. 

Neuer Bundesbeauftragter gegen Antiziganismus

Mehmet Daimagüler war bis Mai 2025 Deutschlands erster Beauftragter gegen Antiziganismus. Der 57-Jährige hat hellgraue Haare und einen Bart in derselben Farbe. Er trägt ein hellblauer Hemd und steht mit verschränkten Armen vor dem Schild mit der kompletten Amtsbezeichnung: Beauftragter der Bundesregierung gegen Antiziganismus und für das Leben von Sinti und Roma in Deutschland.
Mehmet Daimagüler war von März 2022 bis Mai 2025 Deutschlands erster Bundesbeauftragter gegen AntiziganismusBild: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Der Jurist war bis vor kurzem Deutschlands erster Beauftragter gegen Antiziganismus. Sein Nachfolger heißt Michael Brand. Der Bundestagsabgeordnete ist Staatssekretär im Familienministerium, das den MIA-Bericht im Rahmen des Programms "Demokratie fördern!" unterstützt.

Brand übernimmt das Amt in schwierigen Zeiten. "Völlig klar ist, dass wir angesichts des Anstiegs von innen und außen befeuertem Extremismus gerade auch Minderheiten wie die Sinti und Roma besonders vor den Auswirkungen von Extremismus und Diskriminierung zu schützen haben", sagt der Christdemokrat (CDU).

Betroffene sprechen von zunehmend feindseliger Atmosphäre

Im aktuellen MIA-Bericht spiegelt sich die besorgniserregende Entwicklung nicht nur statistisch wider. Von Antiziganismus betroffene Menschen berichten allgemein von einer feindseligeren Atmosphäre. Die deutlich höheren Fallzahlen seien unter anderem aber auch durch den wachsenden Bekanntheitsgrad von MIA zu erklären, heißt es.

Die Dokumentation hat einen Umfang von fast 70 Seiten und enthält zahlreiche konkrete Schilderungen erniedrigender, mitunter gewalttätiger Diskriminierung:

Ein Sinti-Junge, der in der Schule gemobbt wird, wird eines Tages von mehreren Jungen nach der Schule festgehalten, an eine Bank fixiert, geschlagen und dabei gefilmt.

Drohgebärden und Körperverletzungen

Der Fall eskalierte den Angaben zufolge weiter, als die Eltern des Jungen und zwei Verwandte die Eltern der Täter mit dem Verhalten ihrer Kinder konfrontieren:

Dabei versammeln sich mehrere Leute und schlagen die Familie. Einem der Sinti wird der Fuß gebrochen, ein anderer wird mit einem Messer bedroht und verletzt.

In Kindergärten und Schulen kommen solche Exzesse offenbar immer wieder vor, wie aus einer Studie hervorgeht. Die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus sieht die Ursache für diese Entwicklung in der zunehmenden gesellschaftlichen Verrohung: "MIA stellt fest, dass antiziganistische Äußerungen, vor allem durch rechte Parteien, das gesellschaftliche Klima vergiften."

Nazis verübten Völkermord an Sinti und Roma

Romani Rose, seit 1982 Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, zieht im MIA-Report ein pessimistisches Fazit: "Leider müssen wir eingestehen, dass sich trotz unserer fast fünfzigjährigen politischen Arbeit in diesem Land, ein Bewusstseinswandel nur in Ansätzen vollzogen hat." Rose erinnert an die systematische Vernichtung seiner Volksgruppe durch die Nationalsozialisten.

Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurden mehr als eine halbe Million Sinti und Roma aus ganz Europa verfolgt und ermordet. Heute leben schätzungsweise 80.000 bis 140.000 in Deutschland. Europaweit sollen es zwischen zehn und zwölf Millionen sein. Damit sind sie die größte ethnische Minderheit des Kontinents.

Medien verbreiten oft Klischees 

Prägend für das Klischeebild von Sinti und Roma sind laut MIA-Bericht auch Medien. Verzerrende oder falsche Darstellungen gibt es demnach sowohl in privatwirtschaftlichen Verlagen als auch in öffentlich-rechtlichen Rundfunkhäusern, die nicht profitorientiert arbeiten dürfen. Beschwerden über stigmatisierende und wahrheitswidrige Berichte gibt es häufiger.

In einem dokumentierten Fall ging es um angeblich massenhaften Missbrauch staatlicher Gelder: "Über 5000 Fälle von Sozialbetrug durch falsche Ukrainer" lautete im März 2024 eine Zwischenüberschrift in einem Artikel der Ippen-Mediengruppe, zu deren Netzwerk rund 80 Online-Portale gehören. Der Text erschien auch auf zahlreichen weiteren Portalen.

Geschichten über Ukraine-Flüchtlinge, die angeblich keine waren

Hintergrund des Textes waren schon kurz nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine kursierende Geschichten über Menschen, die sich für Geflüchtete ausgegeben haben sollen. Laut MIA-Bericht ein typischer Fall von medialem Versagen:

Diese antiziganistischen Erzählungen richteten sich pauschal gegen Roma, denen entweder unterstellt wurde, mit 'gefälschten' ukrainischen Pässen nach Deutschland einzureisen oder eine mögliche ukrainisch-ungarische Doppelstaatsbürgerschaft zu verheimlichen.

Erfolgreiche Beschwerde beim Deutschen Presserat

Die Veröffentlichung des Beitrags beim Hanauer Anzeiger war dann der Anlass für eine erfolgreiche Beschwerde beim Deutschen Presserat, der freiwilligen Selbstkontrolle der Printmedien und deren Online-Auftritte. Demnach waren wesentliche journalistische Grundsätze missachtet worden: Anstatt zu recherchieren und zu hinterfragen, habe man die Berichterstattung anderer Medien als Quelle genommen und oft sogar weiter zugespitzt.

Mit Kunst gegen Klischees über Sinti und Roma

Der Presserat missbilligte den Beitrag gleich dreifach: wegen Verstößen gegen die journalistische Sorgfaltspflicht, das Diskriminierungsverbot und Missachtung der Unschuldsvermutung. Aufgrund begrenzter Ressourcen führe man noch kein systematisches Medienmonitoring durch, bedauert die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus. "Dennoch verfolgen wir aufmerksam die Diskurse und Entwicklungen in der medialen Berichterstattung."

Empfehlungen an die Politik

Zum MIA-Bericht gehören auch in der dritten Jahresbilanz Handlungsempfehlungen. Froh ist man darüber, dass es weiterhin einen Bundesbeauftragten gegen Antiziganismus gibt. Daran wurde gezweifelt, weil im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung ein Bekenntnis fehlt. Jetzt kann das MIA-Team aufatmen und appelliert an die Politik, das Amt mit entsprechenden Ressourcen und Personal zu stärken.

Der Antiziganismus-Beauftragte Michael Brand - schütteres, graues Haar, Brillenträger - steht mit einem blauen Jackett, weißem Hemd und rosa Krawatte bekleidet vor einer blauen Europa-Fahne mit gelben Sternen.
Bundestagsabgeordneter, Staatssekretär im Familienministerium und seit dem 18. Juni 2025 Antiziganismus-Beauftragter: Michael Brand Bild: Revierfoto/IMAGO

Die ersten Worte des neuen Antiziganismus-Beauftragten sind geeignet, in der Sinti- und Roma-Community Hoffnungen zu wecken: "Wo Diskriminierung geschieht, muss ihr klar und entschieden entgegengetreten werden - durch Staat und Gesellschaft gleichermaßen", betont Michael Brand. Und er fügt hinzu: "Es ist mir wichtig, auch die vielen positiven Beispiele des Miteinanders zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheit stärker in den Fokus zu rücken."  

Deutsche Welle Marcel Fürstenau Kommentarbild ohne Mikrofon
Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland