Russland: Steigende Nachfrage nach Second-Hand
15. Februar 2025In ganz Russland nimmt das Interesse an Kommissionsgeschäften, Second-Hand-Läden und Reparaturdiensten für Haushaltsgeräte zu. Angesichts der stark steigenden Lebenshaltungskosten verzichten immer mehr Russen auf den Kauf neuer Waren, Kleidung und Schuhe. Experten zufolge greifen sie stattdessen auf günstigere Alternativen zurück. Vor allem junge Russen würden in Zeiten wirtschaftlicher Instabilität zuallererst weniger für Reisen, Unterhaltung und Luxusgüter ausgeben.
Wirtschaft sowjetischen Typs
Im Jahr 2024 betrug die Inflation in Russland 9,52 Prozent und war damit deutlich höher als die Prognose der Zentralbank, die mit maximal 8,5 Prozent gerechnet hatte. Die Versuche der Behörden, den Preisanstieg einzudämmen, darunter auch mit einer Erhöhung des Leitzinses, zeigten kaum Wirkung. Der russische Ökonom Igor Lipsiz ist überzeugt, dass die tatsächliche jährliche Inflation die offizielle Rate um mehr als das Siebenfache übersteigt.
Aus seiner Sicht erinnert die russische Wirtschaft immer mehr an die der ehemaligen Sowjetunion, die auf militärischen Bedarf ausgerichtet war. Damals flossen erhebliche Mittel in die Rüstungsindustrie und soziale Fragen traten in den Hintergrund. Unter den heutigen instabilen wirtschaftlichen Bedingungen würden sich nur diejenigen wohlfühlen, die Reparaturen oder den Weiterverkauf gebrauchter Waren anbieten würden, so der Experte.
Nachfrage nach gebrauchten Artikeln
Andrej Fedotowskij, Vorsitzender der russischen Vereinigung von Kommissionsläden und Besitzer der Boutique-Kette für Second-Hand Markenkleidung "Komilfo", stellt fest, dass auch die Nachfrage nach gebrauchten Luxusgütern zunimmt. Dieser Trend habe sich schon vor Beginn der "schwierigen wirtschaftlichen Zeiten" abgezeichnet. Durch die Sanktionen und den Rückzug westlicher Marken vom russischen Markt aufgrund von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine habe sich der Trend aber verstärkt. Fedotowskij zufolge wollen Besitzer teurer Markenartikel mit einem Weiterverkauf einen Teil ihres Geldes zurückerhalten und Käufer sehen darin die Möglichkeit, Luxuswaren günstig zu erwerben.
Zwar seien, so Fedotowskij, auch die Preise in den Second-Hand-Läden um acht bis neun Prozent gestiegen, was der Inflationsrate entspreche. Doch dies stünde in keinem Verhältnis zu den steigenden Preisen für neue Markenartikel, die über Grauimporte nach Russland kämen. Dabei handelt es sich um Waren, die von jemand anderem als dem autorisierten Händler oder Vertreter für diese Produkte importiert werden.
"Der Trend zum Weiterverkauf von Markenkleidung ist aber auch Teil einer weltweiten Entwicklung hin zu bewusstem und umweltfreundlichem Konsum", meint Fedotowskij. Wegen der Wirtschaftskrise würden selbst wohlhabende Russen auf eine Kreislaufwirtschaft umsteigen und lieber gebrauchte als neue Waren kaufen.
Schließlich weist Fedotowskij noch darauf hin, dass die Nachfrage nach weiterverkauften Luxusartikeln vor allem in den Regionen gestiegen ist, wo sich beispielsweise durch Gehaltserhöhungen in Rüstungsbetrieben neue finanzielle Möglichkeiten aufgetan haben. "Die Monatsgehälter sind dort auf 200.000 bis 300.000 Rubel (ca. 2000 bis 3000 Euro) angehoben worden", sagt er.
Reparatur als Alternative zum Neukauf
Angesichts der steigenden Preise für neue Waren, insbesondere importierter, ziehen es die Russen vor, alte Geräte reparieren zu lassen, anstatt neue zu kaufen. Dies hat zu einer Zunahme entsprechender Dienstleistungen geführt, was wiederum Abfall reduziert und die Umweltbelastung mindert.
Zu den Nutznießern dieser Nachfrage zählt Avito, eine Plattform, die einst für den Tausch von Waren zwischen Privatleuten gegründet wurde. Inzwischen ist Avito einer der größten Online-Händler in Russland mit einem Umsatz von 1,9 Billionen Rubel (ca. 19 Millionen Euro) im Jahr 2023, was mit den Bilanzen führender Unternehmen des russischen Online-Handels vergleichbar ist.
Auch Avito stellt ein deutlich gestiegenes Interesse an Gebrauchtwaren, einschließlich Kleidung, sowie an Reparaturdiensten fest. So ist die Zahl der Anzeigen für die Reparatur von Haushaltsgeräten im Jahr 2022 um 45 Prozent und 2023 um 64 Prozent gestiegen. Besonders deutlich zugenommen hat die Nachfrage nach Reparaturen von Waschmaschinen und Trocknern - um 181 Prozent, worüber die russische Zeitung "Vedomosti" unter Berufung auf Avito berichtete. Gleichzeitig ist das Interesse an der Reparatur von Computern um 30 Prozent zurückgegangen, was Beobachter auf Probleme beim Import nötiger Komponenten aufgrund der westlichen Sanktionen zurückführen.
Umweltschützer begrüßen den Trend
Umweltorganisationen beobachten ebenfalls ein steigendes Interesse an Second-Hand- und Gebrauchtwaren in Russland. Vertreter der Vereinigung für Ökologie und Umweltschutz "Razdelnyj Sbor" (Getrennte Abfallsammlung) stellen im Gespräch mit der DW fest, dass die schwierige wirtschaftliche Lage in Russland die Verbrauchergewohnheiten verändere, was eine Chance für einen bewussteren Konsum sei.
Nach Angaben der Organisation sind in Russland mehr als 78 Prozent der Textilien, die im Müll landen, noch für eine Wiederverwendung oder ein Recycling geeignet. "Etwa 20 Prozent der Familien in Russland können sich keine neue Kleidung leisten, und in Großstädten werden täglich Hunderte Kilogramm Kleidung weggeworfen", so Irina Schasminowa von "Razdelnyj Sbor". Sie stellt außerdem einen leichten Anstieg der Besucherzahlen der von ihrer Organisation veranstalteten wohltätigen Tauschbörsen fest.
Trotz solcher positiven Veränderungen wirke sich die Wirtschaftskrise in Russland aber negativ auf die Abfallwirtschaft aus, stellt Anna Garkuscha von "Razdelnyj Sbor" fest. Viele Unternehmen, die Sekundärrohstoffe verarbeiten, hätten wegen der Sanktionen Schwierigkeiten, nötige Ausrüstung zu reparieren. Einige Müllsammelstellen hätten aber auch aufgrund finanzieller Probleme und mangelnder staatlicher Unterstützung schließen müssen. "Beispielsweise wurde für einen Standort in Sankt Petersburg die Miete so stark erhöht, dass er nur noch rote Zahlen schrieb", so Garkuscha.
Der Expertin zufolge dämpfen die Wirtschaftsprobleme die Begeisterung der Bürger für Umweltthemen. "Erstens kann Recycling mehr kosten als die ursprüngliche Herstellung, was letztlich das Produkt teurer macht", betont sie. Die größere Nachfrage nach Reparaturen von Geräten und Second-Hand-Kleidung führt Garkuscha daher eher auf die Wirtschaftslage und weniger auf ein zunehmendes Bewusstsein für den Umweltschutz zurück.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk