Russischer Wissenschaftler über die soziale und politische Lage in Turkmenistan (Teil II)
8. April 2002Moskau, ZENTRALASIEN UND KAUKASUS, Nr. 2 (20), 2002, Sergej Kamenew
Sozialpolitik
In vielen Reden von Saparmurad Nijasow und anderen hohen Amtsträger wird die erstrangige Aufmerksamkeit sozialen Reformen gegenüber hervorgehoben. In erster Linie geht es dabei um die Erhöhung der Gehälter der Beamten und Angestellten, sowie der Renten und Stipendien. Außerdem sind, wie wir bereits erwähnten, die Mieten im Land sehr niedrig, Gas und Wasser kostenlos, Strom muss praktisch nicht bezahlt werden (nur bei Überschreitung eines bestimmten Niveaus). Es gibt bedeutende Vergünstigungen beim Erwerb von Salz, Mehl, preiswerte Fahrscheine bei den öffentlichen Verkehrsmitteln (Autobus, Omnibus), preiswerte Flugscheine für den Flug von Aschgabad nach Turkmenbaschi (ehemaliges Krasnowodsk) – zwei Dollar. Preiswert ist das Benzin, niedrig sind die Preise für die Grundnahrungsmittel – Brot, Milch, Käse, viele Früchte und Gemüse.
Die turkmenische Führung unterstreicht, für den Zuwachs der landwirtschaftlichen Produktion seien 395 800 Pächtern und Privateigentümern bis 2000 kostenlos 1,46 Millionen Hektar bewässerter Boden zur Verfügung gestellt worden (80 Prozent des Gesamtumfangs). Es werden Kredite sowie 50 Prozent Rabatt beim Erwerb von Saatgut, Technik und Düngemitteln gewährt. Die Farmer und Pachtvereinigungen müssen keine Gewinn- und Mehrwertsteuer abführen. Außerdem können die landwirtschaftlichen Produzenten, die Getreide und Baumwolle an den Staat liefern, mit Vergünstigungen rechnen.
Hervorgehoben wird eine weitere nicht gerade unwichtige Errungenschaft. Während der Regentschaft von Saparmurad Nijasow ist die durchschnittliche Lebenserwartung der Turkmenen gestiegen. Offiziell werden folgende Angaben gemacht: Wenn die durchschnittliche Lebenserwartung im Jahr 1995 bei 61 Jahren lag, so hat sie im Jahr 2000 64,5 Jahre erreicht. Unklar ist allerdings, wie die Demographen zu solch einer Schlussfolgerung kommen, hat doch nach 1995 keine Volkszählung stattgefunden. Nach Ansicht von internationalen Experten habe die durchschnittliche Lebenserwartung in den 90er Jahren 52 Jahre nicht überstiegen. Weit gehende Pläne der sozialen Entwicklung enthält das 1999 angenommene epochale Programm "Strategie der sozialen und wirtschaftlichen Umwandlungen in Turkmenistan in der Zeit bis 2010". Das Ziel der Sozialpolitik von Saparmurad Nijasow besteht darin, hohe Kennziffern beim Lebensniveau der Bevölkerung zu erreichen, die dem wirtschaftlich entwickelten Land (!) entsprechen. Es wird davon ausgegangen, dass in der ersten Etappe (bis 2005) die Kranken- und die Rentenversicherung eine besondere Rolle bei der Bildung von Rücklagen der Bevölkerung spielen werden. Durch die Förderung von nicht staatlichen Gesundheits-, Bildungs-, Wohnungs- und Kommunaleinrichtungen soll der Umfang der gebührenpflichtigen Dienstleistungen erhöht werden, was die zusätzliche Finanzierung dieser Bereiche gewährleisten und bis 2010 ermöglichen wird, den Anteil ähnlicher Leistungen bei den Gesamtausgaben des Bruttoinlandsprodukts auf das Niveau entwickelter Staaten zu erhöhen: für die Bildung zehn Prozent, für das Gesundheitswesen sieben Prozent. (...)
Diese Angaben dürfen jedoch nicht für bare Münze gehalten werden. Das Problem besteht darin, dass Turkmenistan das einzige Land ist, das sowohl der GUS als auch der UNO und anderen internationalen Organisationen keine statistischen Angaben zur Verfügung stellt. Es ist unklar, woher die Information über den Konsum, dessen Struktur usw. stammt. (...)
Zahlen, die die soziale Lage und die Wirtschaft betreffen, werden geheim gehalten. So darf zum Beispiel der Bericht "Soziale und wirtschaftliche Lage Turkmenistans", der monatlich (auch jährlich) vom Nationalen Institut für staatliche Statistik und Information vorbereitet wird, nur an bestimmte Personen verkauft werden, die auf einer Liste des Vizepremiers des Landes stehen. (...)
Die Führung Turkmenistans versteht leider nicht, dass sie dadurch in erster Linie sich und dem Land insgesamt schadet und nicht der Weltgemeinschaft. Gibt es die entsprechende Information nicht, beginnt man an der Glaubwürdigkeit der Berichte über die konsequente Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Lage in Lande insgesamt und dessen Bevölkerung im einzelnen zu zweifeln. Saparmurad Nijasow erklärte in einigen seiner Reden, dass das Jahreseinkommen pro Kopf der Bevölkerung an der Jahrhundertwende bei 2500 bis 2800 Dollar gelegen habe und im Jahr 2010 auf 12 000 bis 13 000 Dollar steigen werde. Um so mehr unterstrich der Präsident bei einer Sitzung des Volksrates (19. Oktober 2001), dass "im Jahr 2001 in Turkmenistan pro Kopf der Bevölkerung Erzeugnisse für 4085 Dollar hergestellt wurden, im Jahr 1999 - für 1260 Dollar".
Sieht man sich jedoch die von der offiziellen Statistik veröffentlichten makroökonomischen Parameter genauer an, stellt man fest, dass die oben gemachten Behauptungen nicht korrekt sind. Angaben des Nationalen Institutes für staatliche Statistik und Information zeugen davon, dass sich das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2001 auf 31 Billionen Manat (Landeswährung) belaufen hat. Bei einer Bevölkerungszahl von 5,56 Millionen Personen betragen die Einnahmen pro Kopf der Bevölkerung 5,58 Millionen Manat. Sogar nach dem von der Zentralbank vor einigen Jahren festgelegten Kurs (5200 Manat für einen Dollar) überschreiten die Einnahmen 1003 Dollar nicht. Geht man jedoch von dem Wechselkurs auf dem Markt aus – 22 500 Manat für einen Dollar (dieses Herangehen ist – von der realen Lage der Wirtschaft Turkmenistans ausgehend – begründet), so erreichen die Einnahmen der Bevölkerung nicht einmal 250 Dollar.
Ein ernstes soziales (aber auch wirtschaftliches Problem) ist die demographische Lage, der die Regierungskreise des Landes wenig Aufmerksamkeit widmen. Offiziellen Angaben zufolge beläuft sich der durchschnittliche Bevölkerungszuwachs in den letzten Jahren auf fast vier Prozent (!). Die Zahl der Bevölkerung betrug am 1. Januar 2002 5,56 Millionen Personen, was als große Errungenschaft verkauft wird. Nach Ansicht von Saparmurad Nijasow wird das in der Zukunft ermöglichen, die Wüstenregionen des Landes bewohnbar zu machen. Nirgendwo wird jedoch erwähnt, dass die rapide Zunahme der Bevölkerungszahl ohne die nötige soziale Unterstützung nicht nur zur relativen, sondern zur absoluten Verarmung des größten Teils der Bevölkerung, besonders auf dem Land (54 Prozent der Bürger), zum Anstieg der Arbeitslosigkeit führt. Derzeit ist fast die Hälfte der Bevölkerung arbeitsfähig, die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei zehn Prozent (unseren Angaben zufolge überschreitet sie 25 Prozent und erreicht auf dem Land 50 Prozent). (...)
Viel wird von der regelmäßigen Erhöhung der Gehälter der Beamten und Angestellten, der Renten und Stipendien geredet. In den letzten Jahren ist es zwei Mal zu solch einer Erhöhung gekommen: Ende 1999 ist das Durchschnittsgehalt offiziellen Angaben zufolge auf 600 000 Manat, etwa 30 Dollar, und am 1. März 2001 auf 950 000 Manat, etwas über 40 Dollar, gestiegen. Der Anstieg von 600 000 auf 950 000 ist jedoch noch keine Verdoppelung. Entweder stimmt bei der Führung des Landes mit der Arithmetik etwas nicht, oder das Durchschnittsgehalt betrug nach 1999 nicht 600 000 Manat (wie es in einem Bericht des Nationalen Institutes heißt), sondern nur 475 000 Manat, was der Realität mehr entspricht.
Das Durchschnittsgehalt der meisten Einwohner beläuft sich eigentlich monatlich auf 20 bis 30 Dollar. Außerdem werden alle "Erhöhungen" von den stets steigenden Preisen für viele Lebensmittel (ganz zu schweigen von industriellen Erzeugnissen) "aufgefressen", die der größte Teil nicht nur der städtischen, sondern auch der ländlichen Bevölkerung auf dem Markt erwerben muss. Und letztendlich wird bei den makroökonomischen Berechnungen die Inflation bei weitem nicht in vollem Umfang berücksichtigt. Ist doch diese nicht nur offiziellen Angaben zufolge in den ersten zehn Monaten 2001 um sechs Prozent gestiegen. Die Leitung des Wirtschafts- und Finanzministeriums betrachtet den vergleichsweise nicht wesentlichen Preisanstieg als großen Erfolg der Regierung im Rahmen der marktwirtschaftlichen Reformen, die Saparmurad Nijasow durchführt. Die von den turkmenischen Ökonomen angeführten Angaben entsprechen jedoch der Wahrheit nicht: unseren Berechnungen, Berechnungen von Experten der Vertretung der Weltbank sowie der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung zufolge ist die Inflation von Januar bis Oktober 2001 um 20 Prozent gestiegen.
Folgen der Turkmenisierung der Gesellschaft
Das Bestreben, die nicht turkmenische Bevölkerung aus den meisten Produktionsbereichen und dem öffentlichen Leben zu verdrängen, hat negative Auswirkungen nicht nur auf die Wirtschaft, sondern auch auf das soziale Klima im Lande, besonders wenn man berücksichtigt, dass – ungeachtet der Tatsache, dass die Turkmenen die Mehrheit der Bevölkerung darstellen (80 Prozent) – ein Fünftel der Bevölkerung nationale Minderheiten sind. Der Volkszählung aus dem Jahr 1995 zufolge (auch hier ist man bestrebt, die Information geheim zu halten) bilden die Turkmenen 81 Prozent der Bevölkerung des Landes, die Usbeken – neun Prozent, die Russen – 3,5 Prozent, ihnen folgen Kasachen, Aserbaidschaner, Tataren, Belutschen, Armenier, Ukrainer. Wir gehen hier nicht auf die Lage der gesamten nicht turkmenischen Bevölkerung ein, sondern nur auf die Lage der ethnischen Russen.
Leider werden diese praktisch aus allen Lebensbereichen des Landes verdrängt. (...) Die Informationspolitik im Lande hat den Auftrag, eine neue historische Gemeinschaft – das turkmenische Volk – zu formieren. Und das schließt nationale und kulturelle Autonomien der nationalen Gemeinden aus, da diese eine reale Gefahr für die Konzeption des "Turkmenbaschismus" selbst darstellen könnten.
Diese Gedanken finden ihren Ausdruck unter anderem in der zielgerichteten Verkleinerung des russischsprachigen Informationsraumes. So wurden bereits 1997 in den Landkreisen die russischsprachigen lokalen Zeitungen geschlossen. Eingestellt wurden fast alle Rundfunksendungen in Russisch (übertragen wird nur Radio "Majak", aber auch hier wird stets vom Verbot gesprochen). Beim nationalen Fernsehen wird vorläufig noch jeden Abend eine zehnminütige Nachrichtensendung in Russisch ausgestrahlt sowie "gut zensierte" und stark gekürzte Sendungen des "Öffentlichen russischen Fernsehens". In russischer Sprache erscheint (sechs Mal wöchentlich) eine Zeitung – "Nejtralnyj Turkmenistan", die Turkmenbaschi lobpreist und an die "Prawda" aus der Sowjetzeit erinnert. Zeitungen aus Russland werden nicht verkauft, für die Einfuhr von Druckerzeugnissen aus Russland – sogar von Lehrbüchern – benötigt man eine Genehmigung der Regierung (!). Es geht manchmal bis ins Absurde. Im Februar 2001 befahl Saparmurad Nijasow, aus den Computern der staatlichen Einrichtungen die kyrillische Schrift zu entfernen.
Gleichzeitig hemmt niemand und nichts den Informationsstrom aus anderen Staaten, in erster Linie aus der Türkei. Seit mehreren Jahren hat das Zentralasiatische Büro des staatlichen Rundfunks dieses Landes sowie der türkische Fernsehsender "Eurasia" hier seinen Sitz. Erfolgreich ist die turkmenische Redaktion der türkischen Zeitung "Zaman", die in Turkmenisch und Türkisch erscheint. Natürlich muss man die Entwicklung der turkmenisch-türkischen Zusammenarbeit auf dem Informationsgebiet nur begrüßen, zweckmäßig wäre es jedoch, ähnliche Bedingungen auch für die russischen Massenmedien zu schaffen, besonders unter Berücksichtigung des zunehmenden Informationshungers der russischsprachigen Bevölkerung (das sind nicht nur ethnische Russen, sondern auch Vertreter anderer Nationalitäten, darunter auch Turkmenen). (...) Wie in vielen anderen Bereichen fasst Saparmurad Nijasow persönlich Beschlüsse auch auf diesem Gebiet. (...)
Natürlich sehen sich Einwohner Turkmenistans – die sich nicht nur mit den Sendungen des Nationalen Fernsehens zufrieden geben wollen – auch Sendungen an, die sie über Satellit empfangen, in erster Linie Sendungen des russischen Fernsehens. Nicht nur in Aschgabad und in den Rayonzentren (wo Antennen praktisch auf jedem Dach stehen), sondern auch auf dem Land. Das Problem ist nur, dass dieses Vergnügen zu teuer ist und es nicht alle sich leisten können: in Aschgabad, dessen Bevölkerung sich inzwischen auf 700 000 Einwohner beläuft, ist das fast die Hälfte der Hauptstädter, in den Rayonzentren sind es etwa 30 Prozent, auf dem Land um die zehn Prozent.
In der humanitären Sphäre wird der Gedanke über die Exklusivität der turkmenischen Nation, deren großen Beitrag zur Entwicklung der Weltkultur verbreitet. Diesem Thema sind Werke turkmenischer Schriftsteller und Dichter, Maler und Komponisten, Theaterstücke und Filme gewidmet. Gleichzeitig wird die Zensur verstärkt, die den Auftrag hat, den Zugang zu Werken, die nicht in den offiziell festgelegten Rahmen passen, wenn schon nicht ganz zu unterbinden, so wenigstens zu minimieren.
Mit dem neuen Bildungsmodell wird Abstand nicht nur von russischen, sondern auch internationalen Standards genommen. Mit beschleunigtem Tempo wird zur neunjährigen Mittelschulbildung und vierjährigen Hochschulbildung übergegangen. Das ermöglicht jedoch nicht, erstens qualifizierte Fachleute vorzubereiten, und versperrt, zweitens, turkmenischen Schülern den Zugang zu russischen Hochschulen. Die Einstellung von Turkmenbaschi, dass "die Jugend nur ihre Heimat lieben und die nationale Sprache beherrschen muss", führt zur Minderung der Qualität des Lernprozesses. Die meisten Absolventen nicht nur der Schulen, sondern auch der Hochschulen haben eine ganz vage Vorstellung von den grundlegenden Fächern (ganz zu schweigen von anderen), was natürlich direkt den Professionalismus der Produktionsarbeiter und der Mitarbeiter von staatlichen Einrichtungen beeinflusst. (...)
Es werden des Weiteren Versuche unternommen, das Gesundheitswesen zu "turkmenisieren", sogar Mediziner werden entlassen. So mussten im Jahr 2001 11 000 Krankenschwestern und Ärzte entlassen werden (zur Erinnerung: im Land mangelt es an medizinischem Personal). Veranlasst wurde, die vorhandene medizinische Literatur in Turkmenisch zu übersetzen. (...)
Die negativsten Auswirkungen hat die Strategie von Turkmenbaschi jedoch auf die Mittel- und Hochschule. Bei den Hochschulen werden Lehrstühle für Russisch geschlossen, von fast 2000 Schulen sind nur noch 70 übrig geblieben, in denen alle Fächer in Russisch unterrichtet werden (die Zahl geht weiterhin zurück). In den übrigen Schulen wird Russisch als Fremdsprache unterrichtet. (...) Die Fächer Geschichte und Geographie Russlands sind gestrichen worden. All das führt letztendlich zur Reduzierung der Zahl russischsprachiger Lehrer im Bildungswesen. All das wird unvermeidlich dazu führen, dass in etwa 20 Jahren nicht nur in der Arbeit sondern auch im Alltag kaum noch Russisch gesprochen werden wird. Das entspricht in vollem Maße der Anweisung von Saparmurad Nijasow, dass "im unabhängigen Turkmenistan das Volk die eigene Sprache sprechen muss". (...) (Sergej Kamenew ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Institutes für Orientalistik der Russischen Wissenschaftsakademie. In den Jahren 1999 bis 2001 war er Erster Sekretär der Botschaft der Russischen Föderation in Turkmenistan) (lr)