Russischer Wissenschaftler über die soziale und politische Lage in Turkmenistan (Teil I)
5. April 2002Moskau, ZENTRALASIEN UND KAUKASUS, Nr. 2 (20), 2002, Sergej Kamenew
Unter den Republiken der ehemaligen Sowjetunion zieht Turkmenistan aus mehreren Gründen besondere Aufmerksamkeit auf sich. So gehört Turkmenistan zu den Staaten, die über die größten Gasvorräte der Welt verfügen. Das Zuwachstempo des Bruttoinlandsprodukts ist (offiziellen Angaben zufolge) erstaunlich hoch – fast 21 Prozent im Jahr 2001. Dazu kommen bedeutende soziale Vergünstigungen – kostenlose Nutzung von Gas, Wasser, Elektroenergie, geringe Mietpreise, preiswerte Fahrscheine bei den öffentlichen Verkehrsmitteln, außergewöhnlich ruhige soziale und politische Lage, die angesichts der innenpolitischen Schwierigkeiten in den übrigen Zentralasiatischen Republiken, vor allem in Tadschikistans und Usbekistan, hervorzuheben ist. Letztendlich hat Turkmenistan – sofern das Land es wünscht – die Möglichkeit, sich (wegen seines neutralen Status) aus der Lösung einer Reihe von außenpolitischen und außenwirtschaftlichen Problemen sowohl auf der Ebene der Region als auch im geopolitischen Sinne herauszuhalten. In diesem Zusammenhang taucht die begründete Frage auf: "Wie gelingt es dem Präsidenten des Landes Saparmurad Nijasow, innenpolitische Stabilität, Wirtschaftswachstum zu gewährleisten und sich – bei fehlenden demokratischen Institutionen im Lande - vor dem Auftauchen einer Opposition zu schützen?"
Konzeptionelle Regierungsgrundlage
Die sozialpolitische und die sozialwirtschaftliche Lage im Lande, wie eigentlich auch dessen außenpolitischer Kurs sind durch eine Reihe von Faktoren bedingt, die nur für einzelne Staaten typisch sind. Der wichtigste davon ist das Prinzip des Autoritarismus im staatlichen Machtsystem. Der Präsident Turkmenistans Saparmurad Nijasow, der laut Verfassung Chef der Exekutivmacht ist, ist bestrebt, persönlich über alle gesellschaftlichen Bereiche zu bestimmen, was praktisch die Teilnahme der Chefs von Ministerien und anderen staatlichen Einrichtungen an der Lösung von politischen und wirtschaftlichen Problemen sogar auf der niedrigsten Ebene ausschließt.
Das politische Leben im Land basiert auf der Tätigkeit einer einzigen Partei, der Demokratischen Partei Turkmenistans, an deren Spitze Saparmurad Nijasow steht. Das ist eigentlich die ehemalige Kommunistische Partei der Unionsrepublik. Es ist klar, dass diese im politischen Leben des Landes heutzutage überhaupt keine Rolle spielt, sie "druckt" nur die Beschlüsse, die Turkmenbaschi einbringt. Die Machtorgane, die sich von der Erklärung des Präsidenten darüber leiten lassen, dass die Gesellschaft für ein Mehrparteiensystem nicht bereit ist, unterbinden jegliches Vorgehen, das auf das Auftauchen einer Opposition gerichtet ist. Natürlich spielen die Machtstrukturen hier die führende Rolle: KNB (Nationales Sicherheitskomitee, ehemaliger KGB), Innenministerium und weitere ähnliche Institutionen. Deren Arbeit beobachtet Saparmurad Nijasow mit besonderer Aufmerksamkeit.
In der Praxis widerspiegelt sich der Autoritarismus des Regimes in der von Saparmurad Nijasow (im April 2000) vorgeschlagenen Konzeption der Hauptrichtungen der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung Turkmenistans im 21. Jahrhundert. Seiner Ansicht nach formiert sich im Land eine nationale klassenlose Gesellschaft ganz neuen Typs, die keine Entsprechung in der Geschichte und in der modernen Welt hat. Das, so Turkmenbaschi, ist "eine Gesellschaft, die infolge des bewussten Bestrebens zur Selbstbestimmung aufgebaut wurde, in der alle Bürger, unabhängig vom Alter, der sozialen Lage und des Glaubensbekenntnisses das gleiche Bestreben haben". Und in der Zukunft, so der Verfasser der Konzeption, werde sich dieser soziale Organismus in einen "gerechten Rechtsstaat allgemeinen Wohlstands" verwandeln, "in dem sich alles dem Wohlergehen des Menschen unterordnet". (...) Es wird davon ausgegangen, dass die aus vier Etappen bestehende Übergangsperiode, die 1991 begann und die für die Vorbereitung zum Aufbau einer solchen Gesellschaft notwendig ist, voraussichtlich um 2010 enden wird.
Das totalitäre Regime im Lande ist im Dezember 1999 bei einer gemeinsamen Sitzung des Volksrates, des Ältestenrates und der Gesamtnationalen Wiedergeburt-Bewegung "Galkynysch" deutlich geworden. Damals wurden Saparmurad Nijasow die Vollmachten für eine unbefristete Präsidentschaft erteilt. Dabei machte er einen ganz schwachen, auf die Außenwelt ausgerichteten, Versuch, diesen Vorschlag abzulehnen, stimmte jedoch "unter dem Druck des turkmenischen Volkes" schnell zu, Staatsoberhaupt auf Lebenszeit zu werden. Vorliegenden Angaben zufolge hat Turkmenbaschi die Information darüber, dass Wladimir Putin sich hartnäckig weigert, die russische Verfassung mit dem Ziel zu ändern, die Amtszeit des Präsidenten in Russland zu verlängern, mit Unzufriedenheit aufgenommen. Die Vereinigten Staaten von Amerika verzogen übrigens nur das Gesicht, als sie vom Präsidenten auf Lebenszeit erfuhren, (da die geopolitischen Interessen Oberhand über die demokratische Prinzipien gewannen). In Westeuropa rief das jedoch Unzufriedenheit hervor und hemmt in gewisser Weise die Entwicklung der außenwirtschaftlichen Beziehungen zu Turkmenistan. Interessant ist auch, dass der Präsident auf dieser Sitzung, (auf der - wie immer einmütig - die Innen- und Außenpolitik des Landes gebilligt wurden) zum vierten Mal Held Turkmenistans wurde. Auf diese Weise näherte er sich Leonid Breschnew, der fünf ähnliche Auszeichnungen besaß. Man kann davon ausgehen, dass Saparmurad Nijasow den ehemaligen sowjetischen Führer in dieser Hinsicht zumindest einholen wird.
In vielen seiner Reden hat Turkmenbaschi mehrfach unterstrichen, dass während der ganzen Übergangsperiode (vielleicht auch später) der soziale und wirtschaftliche Bereich des Landes unter strenger staatlicher Kontrolle stehen müsse. Seiner Ansicht nach würden übereilte soziale und wirtschaftliche (besonders marktwirtschaftliche) Reformen und demokratische Umwandlungen unvermeidlich zur völligen Verarmung der Bevölkerung, zu Chaos in praktisch allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens führen. Unter anderem unterstrich er, dass "niemandem erlaubt ist, Demokratie zu spielen". "Erst müssen die Gesetze greifen, die Demokratie kommt von selbst. Jegliche Versuche, Turkmenistan zu voreiligen radikalen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Maßnahmen anzuspornen, laufen den nationalen Interessen des Landes zuwider, das einen eigenen Weg seiner Entwicklung gewählt hat."
Der Gerechtigkeit halber muss hervorgehoben werden, dass Saparmurad Nijasow nicht ausschließt, dass in der fernen Zukunft ein Mehrparteiensystem geschaffen werden könnte. Dabei unterstreicht er jedoch, dass die Programme der neuen Parteien ausschließlich auf die Unterstützung des jetzigen Regimes gerichtet sein müssen, nicht auf die Konfrontation mit diesem. Nur in diesem Fall können sie als politische Organisationen registriert werden.
Praktische Umsetzung der konzeptionellen Gedanken von Saparmurad Nijasow
Der Aufschwung des turkmenischen Nationalismus und die unverhüllte Propaganda des Personenkults von Saparmurad Nijasow sind die praktische Widerspiegelung des Autoritarismus des jetzigen Regimes. Mit Turkmenbaschi werden (jedenfalls formell) alle Erfolge bei der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes verbunden, wie auch die Unerschütterlichkeit seines Innen- und außenpolitischen Kurses. Es geht soweit, dass jede Ausgabe der lokalen Zeitungen sowie alle Reden von Politikern stets Hochrufe auf den Präsidenten enthalten. So schrieb zum Beispiel die Zeitung "Nejtralnyj Turkmenistan" (am 30. Oktober 2001) im Zusammenhang mit dem zehnjährigen Jubiläum der Unabhängigkeit des Landes: "Mit Freude, mit großem Schwung bereitete sich das turkmenische Volk auf seinen heiligen Feiertag vor, von dem es acht Jahrhunderte lang geträumt hat. Dank den gigantischen Bemühungen unseres weisen Führers, des Großen Saparmurad Turkmenbaschi hat das turkmenische Volk sein Glück, die Freiheit und die große Unabhängigkeit erlangt. Dafür ist es seinem Großen Führer ewig dankbar. Hat doch Saparmurad Turkmenbaschi dem turkmenischen Volk seine Sprache, Kultur, Bräuche und Traditionen, Literatur und Kunst zurückgegeben." (...)
Es ist traurig, dass Saparmurad Nijasow diese Anbetung zulässt (tatsächlich sogar unterstützt) und nicht unterbindet. Der viel zu vielen, mehrere Meter großen Porträts des Präsidenten auf den Straßen der Städte und Dörfer, die in der Regel falsch platziert sind, rufen Befremden bei der überwiegenden Mehrheit der Ausländer hervor, die Turkmenistan bereisen. Ähnlich nehmen sie auch die Tatsache auf, dass es fast in jeder Stadt, auch in der kleinsten, Straßen gibt, die seinen Namen tragen. Es geht nicht nur um die einfache Verehrung. Diese Lobpreisungen sind natürlich nicht der Grund, sondern die Folge der Politik von Intrigen und ständigen Kaderumsetzungen, die Saparmurad Nijasow vornimmt. Die ersten Seiten der Zeitungen, das Fernsehen und Radio berichten regelmäßig über Neuernennungen und Umbesetzungen – von den niedrigsten Ebenen bis zu den höchsten Staatsämtern. (...) Dabei ist ein ständiger Kaderwechsel zu beobachten. Des Öfteren halten die Staatsbeamten nicht einmal die sechs Monate Probezeit durch. Dabei geht es hauptsächlich um die Vizepremiers, Minister, deren Stellvertreter, Abteilungsleiter, Administrationsleiter von Gebieten, Rayons, Städten usw.
Der erste Eindruck – Turkmenbaschi ist nicht imstande, eine konsequente Kaderpolitik durchzuhalten und Stabilität bei der Leitung des Landes zu gewährleisten. Das ist jedoch gar nicht der Fall. Bei solch einem erfahrenen Politiker (Saparmurad Nijasow steht seit 1985 an der Spitze Turkmenistans, als er zum Ersten Sekretär des ZK der Kommunistischen Partei der Republik ernannt wurde) lässt sich der ständige Kaderwechsel mit dem Bestreben erklären, eine Zunahme des Einflusses der Untergebenen nicht zuzulassen. Folge ähnlicher Tendenzen ist jedoch der Zweifel von Turkmenbaschi an der Treue der nächsten Umgebung, der Wunsch, Anhänger des Clans von Saparmurad Nijasow - "turkmen-achalteke" - möglichst nahe an sich heranzuholen, für immer Schluss mit der Moskauer und Petersburger Opposition zu machen. Daraus machte die turkmenische Führung übrigens auch keinen Hehl, als sie (im Juni 1999) das Visa-Regime mit Russland einführte.
Die andere Seite dieser Kaderpolitik ist die Unsicherheit der überwiegenden Mehrheit der Beamten. Da sie begreifen, dass sie jederzeit ihres Amtes enthoben werden können, gehen sie weniger ihren unmittelbaren Verpflichtungen nach, als dass ihre Stellung für persönliche Zwecke nutzen, sprich Angehörige mit guten Ämtern zu versorgen und sich maximal zu bereichern. Ist der Beamte jedoch dem Präsidenten treu, kann dieser die Augen vor vielem verschließen, obwohl er kompromittierendes Material über jeden Leiter der höchsten und sogar mittleren Ebene besitzt.
Die ernsteste Folge dieser Kaderpolitik ist jedoch, dass Personen für die führenden Ämter nicht unbedingt gemäß ihren Fachkenntnissen ausgewählt werden. (...) Ein weiteres ernstes Problem, das eng mit den Kadern in Verbindung steht, ist dadurch bedingt, dass seit dem 1. Januar 2000 ausschließlich Turkmenisch Amtssprache im Land ist, was zur Diskriminierung von Bürgern anderer Nationalitäten führt. Das ist praktisch darauf gerichtet, "Fremde" aus dem System der staatlichen Verwaltung und anderen Bereichen zu verdrängen. Das wird ernste negative Folgen haben – im Land ist bereits ein Defizit an Fachleuten zu beobachten. Verantwortliche Posten erhalten nicht Fachleute, sondern dem Präsidenten treue Personen. Die Kandidaten für die Ämter müssen der Titularnation angehören. Während dieser "Säuberung" veranlasste Saparmurad Nijasow im Jahr 2000 die Entlassung von 10 000 Schul- und Hochschullehrern sowie von 11 000 Medizinern, obwohl sich das Bildungs- und Gesundheitswesen in einem erbärmlichen Zustand befindet. Den größten Teil der Umgebung des Präsidenten bilden – soweit man das beurteilen kann - heute Personen, die die Interessen der Türkei und der USA vertreten.
Es werden ganz neue konzeptionelle Herangehensweisen an das Studium der Entwicklung des turkmenischen Staates und dessen Platzes im internationalen historischen Prozess geschaffen, um die Ideologie des "Turkmenbaschismus" umzusetzen. Die Leitung des Instituts für Geschichte beim Ministerkabinett hat eine Reihe von Artikeln vorbereitet, die darauf gerichtet sind, die Geschichte des Landes zu revidieren und seine Rolle (im Laufe vieler Jahrhunderte) nicht nur in der Region, sondern in der ganzen Welt zu erhöhen. Es wird die Schlussfolgerung gezogen, dass "Vorfahren der Turkmenen einen großen Teil Asiens sowie einen Teil Europas eroberten", dass sie danach "ihren Einfluss auf einen großen Teil des Nahen und mittleren Ostens, Kleinasiens, Europas und Indochinas ausdehnten", eine "bedeutende Rolle in der Geschichte der Völker Asiens, Ost-, Mittel- und Westeuropas und sogar Nordafrikas" spielten.
Nach Ansicht der Verfasser dieser Artikel werden in der Geschichte über 60 Staaten gezählt, die entweder von Turkmenen gegründet oder von turkmenischen Dynastien geführt wurden. Von diesen und anderen Voraussetzungen ausgehend wird die Schlussfolgerung gezogen, dass "die Geschichte der turkmenischen Staatlichkeit eine beispiellose Erscheinung im internationalen historischen Prozess ist". (...)
Der Turkmenistan-Kenner und Berater von Präsident Saparmurad Nijasow, das Mitglied der Wissenschaftsakademie W. Masson, geht davon aus, dass diese nationalistische Auslegung des historischen Prozesses eine äußerst negative Reaktion nicht nur russischer, sonder auch europäischer sowie asiatischer Geschichtswissenschaftler hervorrufen könnte, da sie die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft ignoriert und die Rolle der Turkmenen in der Geschichte lobpreist. Dabei schadet ein solcher Umgang mit der Geschichte nach Ansicht einiger Mitarbeiter der Turkmenischen staatlichen Universität in erster Linie der Führung des Landes und seinem internationalen Ansehen. Es wäre jedoch nicht korrekt, die positiven Momente der Innenpolitik von Saparmurad Nijasow außer Acht zu lassen, die auf die Beibehaltung der Stabilität in der Gesellschaft gerichtet sind. Die Zunahme der Aktivität islamischer Extremisten in der Region wirkte sich natürlich auch auf das Vorgehen proislamischer Kräfte in Turkmenistan aus. Und obwohl im Lande – ungeachtet der Tatsache, dass es ein moslemisches Land ist - die Positionen des Islam nicht so stark sind, wie man das erwarten könnte, riefen Äußerungen des Radikalismus ernste Besorgnis bei Saparmurad Nijasow hervor. In diesem Zusammenhang ergriff er eine Reihe von Maßnahmen, die gegen das Vordringen ähnlicher Gruppierungen von außen nach Turkmenistan gerichtet sind. (...)
Saparmurad Nijasow ist es zu verdanken, dass die Kriminalität im Lande zurückgegangen ist. Auch wenn man davon ausgeht, dass die Angaben über die verübten Verbrechen geschönt sind, beeindruckt diese Information trotzdem: im Land leben über fünf Millionen Menschen, im Jahr 2002 wurden insgesamt 10 885 Verbrechen registriert, davon 267 Morde, 159 schwere Körperverletzungen, 61 Vergewaltigungen, 3234 Diebstähle. Die Aufklärungsquote liegt offiziellen Angaben zufolge bei 95 Prozent. (...) (Fortsetzung folgt) (Sergej Kamenew ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Institutes für Orientalistik der Russischen Wissenschaftsakademie. In den Jahren 1999 bis 2001 war er Erster Sekretär der Botschaft der Russischen Föderation in Turkmenistan) (lr)