"Russische Truppen werden nicht nach Afghanistan zurückkehren"
11. Dezember 2001Moskau, 11.12.2001, ISWESTIJA, russ.
Vor zwei Wochen hat der Sondervertreter des Außenministers Russlands in Afghanistan, Aleksandr Oblow, seine Arbeit in Kabul aufgenommen. Eigentlich ist er ein bevollmächtigter Botschafter unseres Landes in Afghanistan. Am Montag (10.12.) beantwortete Aleksandr Oblow Fragen des ISWESTIJA-Sonderkorrespondenen, Aleksandr Chochlow.
Frage:
Aleksandr Stepanowitsch, seit zwei Wochen hält sich eine Gruppe von Vertretern des Außenministeriums, des Verteidigungsministeriums und des Notstandsministeriums in Afghanistan auf. Was ist getan worden?Antwort:
Der Präsident Russlands hat uns zwei konkrete Aufgaben gestellt: möglichst schnell die Tätigkeit der diplomatischen Vertretung in Kabul wieder aufzunehmen und ein humanitäres Zentrum einzurichten. Unsere Gruppe, die aus elf Personen besteht, hat sich sofort nach ihrer Ankunft mit dem Präsidenten des Islamischen Staates Afghanistan, Burhanuddin Rabbani, und dem Chef des Außenministeriums, Abdullah Abdulla, getroffen. Bei ihnen sind wir nicht nur auf volle Unterstützung, sondern auch Gegenvorschläge gestoßen: in möglichst kurzer Zeit die Botschaft Russlands in Kabul zu öffnen. Das bedeutet, dass unsere Wünsche übereinstimmen.Frage:
In welchem Zustand befindet sich der ehemalige sowjetische diplomatische Komplex in Kabul derzeit?Antwort:
Der Komplex der ehemaligen Botschaft der UdSSR in Kabul ist infolge der Kampfhandlungen stark beschädigt worden. Die Bombardements, die Beschüsse und Plünderungen haben die meisten Gebäude unbrauchbar gemacht. Das alles könnte jedoch wieder hergestellt werden. Das Problem besteht in etwas anderem: Die Taliban haben in der sowjetischen Botschaft Flüchtlinge untergebracht. 4000 Familien. Etwa 30 000 Personen. Wie und wohin können diese im Winter umgesiedelt werden?Es ist der Beschluss gefasst worden, zeitweilig die Botschaft Russlands an einer anderen Stelle zu errichten. Die afghanische Regierung hat uns kostenlos für zwei Jahre ein gut erhaltenes vierstöckiges Gebäude in einem Bezirk zur Verfügung gestellt, wo sich bereits Botschaften vieler anderer Staaten befinden. Demnächst werden dort die Renovierungsarbeiten beginnen. (...) In Zukunft wird die russische Botschaft jedoch unbedingt in ihren Komplex zurückkehren, der auf den 15 Hektar Boden steht, die bereits 1919 der damalige afghanische Herrscher unserem Land geschenkt hat.
Frage:
Russland war mit Afghanistan gut befreundet, später kämpfte es hier, jetzt will es wieder Freundschaft pflegen. Wir haben eine Menge Geld in dieses Land investiert – ohne Nutzen. Wozu brauchen wir denn jetzt Afghanistan?Antwort:
Ich halte die Entscheidung des Präsidenten und der Regierung, Afghanistan jetzt breit angelegte humanitäre Hilfe zu leisten, für sehr richtig und zeitgemäß. Man darf Freunde im Unglück nicht allein lassen. Anfang der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts, während des schrecklichen Hungers in der Wolga-Region, war das afghanische Volk das erste Volk, das uns Hilfe leistete. Die Afghanen sammelten in ihren entlegensten Kischlaks Goldmünzen, für die sie Weizen für Russland kauften. Im Jahr 1941 lag im Norden Afghanistans ein deutscher Militärstützpunkt – 3000 Soldaten. Als die Faschisten die Sowjetunion überfielen, beschlossen die Afghanen Neutralität einzuhalten. Die Deutschen mussten gehen. Nicht alles in den zwischenstaatlichen Beziehungen wird vom nackten Pragmatismus bestimmt.Wenn Sie darauf bestehen – sprechen wir über das Pragmatische. Die Sowjetunion hat in Afghanistan 197 Industrieobjekte errichtet. Viele von ihnen sind heute zerstört. Wieso sollten wir nicht mit den Afghanen übereinkommen und diese zu beiderseitigem Nutzen wiederherstellen? In Afghanistan gibt es viele Bodenschätze. Das afghanische Kupfer ist von der Qualität her besser als das chilenische, hier gibt es auch größere Vorräte als in Chile. Hier gibt es außerdem Erdöl, Erdgas, Gold, Edelsteine. Sobald im Lande Frieden herrschen wird, wird es bestimmt erneut um den Bau einer Erdöl- und Gaspipeline aus Zentralasien Richtung Indischer Ozean über Afghanistan gehen. Ich bin der Ansicht, Russland sollte an vielen Wirtschaftsprojekten in Afghanistan teilnehmen.
Frage:
Was meinen Sie, wird die Zusammenarbeit mit Afghanistan auch die Kooperation auf militärischen Gebiet beinhalten?Antwort:
Ich glaube, wir werden auf dem ganzen Spektrum der zwischenstaatlichen Beziehungen zusammenarbeiten.Frage:
Können russische Truppen nach Afghanistan zurückkehren?Antwort:
Ich wiederhole, was bereits der Präsident und der Verteidigungsminister Russlands gesagt haben: kategorisch nein. Kein einziger russischer Soldat wird nach Afghanistan entsandt werden.Frage:
Und Militärberater?Antwort:
Wieso nicht, wenn es im Vertrag über die militärtechnische Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Staaten unter anderem um die Ausbildung von Militärs gehen wird. Das gehört zur internationalen Praxis, daran kann man keinen Anstoß nehmen. In den sowjetischen Hochschulen wurden afghanische Jugendliche in 92 Fachrichtungen ausgebildet. Auch afghanische Offiziere wurden bei uns ausgebildet. Sollte die Regierung Afghanistans einen entsprechenden Vertrag mit der Regierung Russlands schließen, könnten wir das fortsetzen. Obwohl Afghanistan heute in erster Linie Fachleute für die Wiederherstellung der Wirtschaft braucht.Frage:
Werden in Afghanistan nicht die Interessen Russlands mit den Interessen der USA aufeinanderprallen?Antwort:
Ich glaube, dass wir bei der Wiederherstellung der Wirtschaft Afghanistans nicht rivalisieren, sondern kooperieren werden. Das Taliban-Regime ist dank den Bemühungen der ganzen Weltgemeinschaft besiegt worden. Diese Zusammenarbeit wird aller Wahrscheinlichkeit nach bei der Wiederherstellung Afghanistans fortgesetzt werden. Es hat Sinn, hier internationale Konsortien zu bilden.Frage:
Mit welchen Fragen haben sich die Afghanen in diesen zwei Wochen am häufigsten an Sie gewandt?Antwort:
Neben den vielen Treffen mit den Führern Afghanistans war ich gezwungen, viele konsularische Probleme zu lösen. In Russland leben viele afghanische Bürger, Familien sind zerrissen. Auch einige ehemalige Landsleute, russische Frauen, die Afghanen geheiratet haben und den ganzen Schrecken der Taliban-Regierung erdulden mussten, haben sich an mich gewandt. Allein in Kabul gibt es davon etwa 300 Personen. Ich versuche ihnen zu helfen, wie ich kann. (...)Frage:
Wie möchte Russland Afghanistan sehen?Antwort:
In erster Linie als ein friedliches, blühendes Land, das nicht erneut zum Zentrum des internationalen Terrorismus und Drogenschmuggels wird. Als unseren guten Nachbarn. (lr)