Richter in Ungarn kämpfen für eine unabhängige Justiz
18. März 2025Ein schickes Büro im 12. Bezirk von Budapest. Es ist elegant möbliert, an den dezent dunkelgrauen Wänden hängen Gemälde, auf dem Schreibtisch neben dem modernen Computer steht eine Glasplakette - eine Auszeichnung des Vereins Mensa HungarIQa für hochbegabte Menschen. Dies ist die Kanzlei, in der die Rechtsanwältin Adrienn Laczo arbeitet.
Obwohl erst seit Kurzem Anwältin, ist die Mittfünfzigerin zur Zeit eine der prominentesten Juristinnen Ungarns. Adrienn Laczo wurde Ende November 2024 schlagartig bekannt, als sie nach 24 Jahren als Richterin in einem öffentlichen Facebook-Post erklärte, dass sie keine andere Wahl habe, als den Richterberuf aufzugeben. Im Gespräch mit der DW sagt sie: "In Ungarn ist die Unabhängigkeit der Justiz abgeschafft worden."
Im ungarischen Justizapparat rumort und gärt es seit langem, das ist im Land bekannt. Doch über Konflikte dringt meistens wenig Konkretes nach außen. Dass jemand so offen spricht wie Adrienn Laczo, ist ungewöhnlich. Und doch ist sie in diesen Tagen nicht allein.
Ende Februar 2025 demonstrierten in Budapest vor dem Justizministerium auf dem zentralen Kossuth-Platz hunderte von Richterinnen und Richtern, zusammen mit Angehörigen und Unterstützern. Derartiges gab es in Ungarn noch nie und auch anderswo in Europa nur höchst selten, so vor einigen Jahren in Polen. Die Richterinnen und Richter waren für die Unabhängigkeit der Justiz auf die Straße gegangen. Außerdem forderten sie Gehaltserhöhungen, da ungarische Justizangestellte zu den am schlechtesten bezahlten in Europa gehören.
Liste der kritischen Richter?
Es bedarf inzwischen nicht nur allgemein großen Mutes, in Ungarn gegen das System des Premiers Viktor Orban auf die Straße zu gehen, da man Job und Karriereaussichten riskiert. Im Falle der Richterinnen und Richter war es noch schlimmer - ein bekannter und besonders rüder regierungsnaher Publizist, der Orban-Freund Zsolt Bayer, hatte im Vorfeld der Kundgebung gefordert, eine Liste mit den Namen aller aufzustellen, die demonstrieren würden.
Auch Adrienn Laczo war unter den Demonstranten. Dass trotz des "Listungs-Aufrufs" so viele Unerschrockene auf die Straße gingen, zeige, so Laczo, wie groß die Unzufriedenheit unter den 2600 Richtern in Ungarn sei: "Ich kenne viele, die ähnlich denken wie ich, aber versuchen, so zu tun, als würden sie in einem luftleeren Raum urteilen. Es ist ihr Beruf, und sie lieben ihre Arbeit, also versuchen sie, zu überleben."
Auch sie selbst habe jahrelange innere Kämpfe ausgefochten, bevor sie an die Öffentlichkeit ging, sagt sie. Das Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung sei, habe sie zum ersten Mal 2012 gehabt. Damals führte die Orban-Regierung die Zwangspensionierung von Richtern ein. Hunderte erfahrene Richter im Alter zwischen 62 und 70 Jahren, die führende Positionen hatten, wurden dadurch aus den Gerichten gedrängt. "Das erzeugte Unsicherheit in der Institution, und jüngere Richter wurden belohnt, indem sie diese Positionen übernahmen."
Obwohl die Orban-Regierung die Regelung auf Druck europäischer Institutionen bereits 2013 zurücknahm, kehrten viele pensionierte Richter nicht in ihre früheren Positionen zurück - für viele war es zu spät. "Die Regierung hat also ihr Ziel erreicht", so Laczo.
Mangel an Kompetenz und Erfahrung
Seitdem, vor allem in den vergangenen fünf bis sechs Jahren, habe der Druck auf die Gerichte zugenommen, sagt die ehemalige Richterin. Allerdings: "Es ist nicht so, dass jemand einen Richter anruft, der einen politisch brisanten Fall verhandelt, und ihm sagt, welches Urteil erwartet wird. Vielmehr erleben die Richter, dass manche in der Hierarchie schneller aufsteigen, während andere zurückbleiben. Wer Entscheidungen trifft, die der Regierung gefallen, kommt schneller voran."
Die ehemalige Richterin sieht die Kurie, den Obersten Gerichtshof Ungarns, als prominentes Beispiel. Dort seien viele Richter tätig, denen es an fachlicher Kompetenz und Berufserfahrung mangele, so Laczo. Beispielsweise wurde der Präsident der Kurie ernannt, ohne je als Richter gearbeitet zu haben - also auf politischer Basis, was sich auch in seiner Arbeit widerspiegele.
Wofür Orban und sein Apparat eine willfährige Justiz, darunter vor allem Institutionen wie die Kurie, nutzen, zeigt das Beispiel eines Medienprozesses im vergangenen Jahr: Damals hatte der Geschäftsführer der österreichischen Supermarktkette Spar dem Fachblatt Lebensmittelzeitung gesagt, dass Viktor Orban ihm nahegelegt habe, einen Verwandten an dem ungarischen Spar-Tochterunternehmen zu beteiligen. Viele ungarische Medien berichteten über den Artikel des Fachblattes. Daraufhin verklagte der Ministerpräsident alle ungarischen Medien, die berichtet hatten, verlor jedoch in erster Instanz. Hinterher verloren zwei Zeitungen einen Berufungsprozess vor der Kurie. Begründung: Sie hätten überprüfen müssen, ob die Aussagen des Spar-Geschäftsführers wahr seien.
Laut Adrienn Laczo hat die Kurie damit die Entscheidungen in ähnlichen Medienprozessen vorweggenommen und mögliche Einschränkungen für den ungarischen Journalismus geschaffen. Denn: Im Jahr 2020 war bereits gesetzlich verankert worden, dass untergeordnete Gerichte nur mit gesonderter Begründung von Entscheidungen der Kurie abweichen dürfen.
Internationale Unterstützung
Ob der erstmalige öffentliche Protest ungarischer Richterinnen und Richter etwas an der Situation in der Justiz ändert, muss abgewartet werden. Doch es gibt bereits breite internationale Unterstützung für die Protestbewegung. So etwa sprach auf der Kundgebung Ende Februar auch der Präsident der Internationalen Richtervereinigung, Duro Sessa. Im Streit um die Mängel in der ungarischen Justiz hat auch die EU seit längerem Fördermittel für Ungarn eingefroren.
Adrienn Laczo zieht ein hartes und eindeutiges Fazit: "Rechtsstaatlichkeit existiert in Bezug auf die Justiz in Ungarn nicht mehr, da die organisatorische Unabhängigkeit der Justiz abgeschafft wurde. Sogar die individuelle Unabhängigkeit der Richter ist stark gefährdet. Und das bedeutet: Ohne eine unabhängige Justiz gibt es keinen Schutzmechanismus für die ungarischen Bürgerinnen und Bürger."
Persönlich freut sich Adrienn Laczo zwar, dass sie als Anwältin arbeiten kann. Sie fürchtet sich auch nicht vor Verleumdungen gegen sie oder ihre Familie. Doch die Anwaltstätigkeit ist nur ein Ersatz für das, was sie eigentlich machen wollte. "Richterin zu sein, war mein Traumberuf, und ich wäre gern als Richterin in Rente gegangen. Aber es ging nicht mehr."