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Repressionen radikalisieren den Islam in Zentralasien

31. Januar 2003

– DW-Interview mit den Führern der verbotenen usbekischen Parteien "Birlik" und "Erk", Anwar Usmanow und Muhammed Salich

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Köln, 31.1.2003, DW-radio / Russisch

Heute, da die westliche Welt in globalem Ausmaß den islamischen Fundamentalismus bekämpft, stellt sich die Frage, wo sich die Herde dieser Bewegung befinden. Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang nicht die Länder und Gebiete, wo die islamischen Traditionen über Jahrhunderte ununterbrochen bestehen konnten – beispielsweise in Saudi Arabien, der Wiege des Islam und der Heimat des Wahhabismus – sondern die postsowjetischen Staaten Zentralasiens, die, nachdem sie sich vom "entwickelten Sozialismus" befreit haben, nun vom radikalen Islam erfasst werden. Die Gründe für diese Entwicklung erläutern die Führer der inzwischen verbotenen usbekischen Parteien "Birlik" und "Erk", Anwar Usmanow und Muhammed Salich, die in der Zeit, als der Islam in Usbekistan wieder erwachte, politisch aktiv waren. Wie nahm der politische Islam in Zentralasien seinen Anfang? Dazu Anwar Usmanow:

"Den ersten Schritt unternahm Moskau. Die Führer von vier islamischen geistlichen Organisationen wurden nach Moskau eingeladen und man sagte ihnen: ‚Es ist die Zeit der Perestrojka gekommen und wir schlagen Ihnen vor, eine Partei der islamischen Wiedergeburt zu gründen.‘ Das war Ende der 80er Jahre. Eine einzige von Moskau aus geführte Partei der islamischen Wiedergeburt ist in Wirklichkeit Nonsens und die Partei zerfiel später in viele nationale Einheiten. Die Partei als solche wurde jedoch gegründet und zu ihrem Vorsitzenden wurde in Usbekistan Abdulla Utajew. Er war ein gemäßigter Mann, er war nicht aggressiv und das einzige, was er erreichen wollte, war, dass der Glaube frei ausgeübt und Moscheen gebaut werden durften."

Den gemäßigten Führer der Partei der islamischen Wiedergeburt suchte jedoch ein tragisches Schicksal heim.

"Abdulla Utajew verschwand. Er wurde verhaftet und bis heute weiß niemand, was mit ihm geschah. Man nimmt an, dass er von der Miliz physisch beseitigt wurde."

Schon vor dem Ende des Bestehens der Sowjetunion war deutlich geworden, dass man unfähig war, mit dem wiedererwachenden Islam umzugehen. Einerseits wurde versucht, ihn zu unterdrücken, und andererseits führten die Annäherungsversuche zu starken Unruhen in islamischen Kreisen der zentralasiatischen Republiken. Das war der erste Schritt zur Radikalisierung der Religion, meint Anwar Usmanow:

"Es traten geistliche Führer auf, die radikaler eingestellt waren. Sie verlangten, der Staat solle sich aus Religionsangelegenheiten völlig heraushalten. Aber auch andere Forderungen wurden aufgestellt, die die öffentliche Meinung erregten. Von ihnen ging alles aus. Die Folge war eine Verhaftungswelle. Festgenommen wurden jene Personen, deren Anhänger und einfach diejenigen, die eine Moschee besuchten."

Muhammed Salich meint, dass es einen ideologischen Nährboden bereits gegeben habe:

"Die Politisierung des Islam in Usbekistan begann Mitte der 80er Jahre. Dabei hatten die arabischen Gelehrten, die Brüder Said Kutub und Muhammed Kutub großen Einfluss. Diese beiden Ideologen des sogenannten "Neuen Islam" hatten einen entscheidenden Einfluss auf alle islamischen Bewegungen Zentralasiens. Damals ereichte die Region erstmals Literatur über den Wahhabismus."

Bei der Politisierung des Islam in Usbekistan war die Gründung der Partei "Adolat" eine wichtige Etappe. Die Partei wurde in Namangan im Fergana-Tal gegründet, das später zur Wiege des religiösen Extremismus und zur wichtigsten Basis bewaffneter Gruppierungen der Islamischen Bewegung Usbekistans wurde.

"Man muss sagen, dass ‚Adolat‘ keine extremistische Organisation war, so wie man sie jetzt bezeichnet. Die religiösen Vertreter wollten gemäß den Regeln der Scharia Korruption und Kriminalität stoppen. Nach der Zerschlagung dieser Partei setzte eine spürbare Unruhe unter der Jugend ein."

Auf diese Unruhe reagierte das Regime von Islam Karimow nicht mit politischen Reformen, sondern mit totalem Terror:

"Es genügte ein Geistlicher zu sein, oder einfach eine Moschee zu besuchen. Das Regime wollte jegliche Religiosität im Keime ersticken. Plötzlich wurde im Lande absolut alles verboten. Moscheen wurden geschlossen und Gläubige verfolgt. Die Schrauben wurden bis zum Anschlag zugedreht. Die Menschen, die bereits Freiheit geschnuppert hatten, begannen, nach einem Ausweg aus dieser Situation zu suchen. Somit fingen 1994 und 1995 radikale Bewegungen an, die in Moskau gegründete friedliche Partei der islamischen Wiedergeburt zu ersetzen."

Diese Zeit war die Sternstunde der militanten Islamischen Bewegung Usbekistans und deren Führer Dschuma Namangani und Tahir Juldasch. Die Tatsache, dass es keine Möglichkeit für eine weltliche demokratische oppositionelle Tätigkeit gab, führte dazu, dass sich unter dem Dach der Islamischen Bewegung Usbekistans bei weitem nicht nur Anhänger des radikalen Islam versammelten. Nach Ansicht von Anwar Usmanow war sogar Tahir Juldasch, der sehr umstritten ist, damals kein überzeugter Islamist:

"Ich kenne Tahir Juldasch, den heutigen Führer der Islamischen Bewegung Usbekistans, und ich habe nicht den Eindruck, dass er ein wütender Islamist ist. Im Gegenteil, früher hatte er immer gesagt, er trete für einen absolut weltlichen Staat ein."

Nach Ansicht von Muhammed Salich hat sogar der politische Islam das Recht, zu existieren, wenn er die Gesetze eines Rechtstaates einhält:

"Ich bin dagegen, den politischen Islam in den Untergrund zu drängen. Wenn der politische Islam keine Gewalt propagiert und wenn er die im Staat geltenden Gesetze einhält, dann hat ein solcher Islam das Recht, zu bestehen. Die Radikalisierung des Islam ist die unmittelbare Folge des staatlichen Terrors."

Die autoritären Regime Zentralasiens haben sich nach Ansicht der Experten selbst eine Falle gestellt, indem sie jegliche Opposition verboten haben. Oppositionellen mit völlig liberalen und weltlichen Ansichten bleibt nur ein Argument: der Kampf um Leben und Tod mit dem Koran in einer und dem Gewehr in der anderen Hand. Anwar Usmanow meint, dass es beispielsweise in Usbekistan schwierig sein werde, einen Ausweg aus dieser Sackgasse zu finden:

"Es wird sehr schwierig sein, nationale Eintracht zu schaffen. Alles hängt davon ab, was nach der Epoche Islam Karimows geschieht, wer an seine Stelle tritt und ob sich ein Gleichgewicht zwischen der Staatsmacht und dem Islam einstellen wird. Mit seinen Repressionen hat der Präsident jedoch für die Zukunft Usbekistans eine Zeitbombe gelegt."

Zum Glück explodiert nicht jede Bombe. Es bleibt zu hoffen, dass beim schwierigen Aufbau einer demokratischen Gesellschaft und eines Rechtstaates dieser Kelch an Usbekistan und den anderen zentralasiatischen Staaten vorbeigehen wird. (MO)