Reporter Tagebuch: Fossilien, Magier und Stubentiger
19. Februar 2010Spuren im Torf
Sie wollen uns noch etwas über ihr Basislager im Urwald erzählen, wie schwer es war, ein geeignetes Haus zum Arbeiten und Schlafen zu finden und wie unglücklich jeder mit der jetzt gefundenen Lösung ist, aber ich höre nur mit halbem Ohr zu. Vor mir liegt der graufarbene Gipsabdruck einer Tigerpranke, kalt wie ein Fossil, groß wie meine Hand, mit klar sichtbarem Ballen.
"Naja, ihr werdet das Haus am Abend ja selbst sehen", sagen sie, sechs Indonesier und ein Deutscher, Mitarbeiter der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit, GTZ. "Das Haus ist nicht komfortabel aber praktisch. Und wenn ihr tatsächlich vier Nächte bleiben wollt, dann seid ihr froh, wieder zurück nach Palembang ins Hotel zu kommen. Zurück in der Zivilisation."
Ich stelle mir vor, wie die Raubkatze geschmeidig durchs Unterholz des indonesischen Urwalds schreitet, mit seiner Pfote tief im warmen Lehmboden versinkt und bin neugierig: "Die Spur habt ihr da in der Nähe eures Hauses gefunden?"
"Suryanto hat sie entdeckt". Sie zeigen auf einen durchtrainierten Indonesier, der als einziger während des gesamten Briefings kein Wort gesagt hat, sich jetzt aber, als er seinen Namen hört, im Stuhl aufsetzt und sein Kreuz durchdrückt, sodass der Schriftzug auf dem T-Shirt gut zu lesen ist: "Satu Orang - Satu Pohon." Wörtlich übersetzt: Ein Mann, ein Baum. Nicht das schlechteste Motto für ein Forstprojekt, das kommt bei den Indonesiern mit ihrer Lust an Metaphern und Sprachspielen sicher gut an.
Ein Mann - Ein Tiger
"Eigentlich müsste auf seinem Hemd etwas anders stehen", bemerke ich: "Satu Orang - Satu Harimau." Ein Mann - Ein Tiger.
"Ich habe die Fährte vor ein paar Wochen gefunden", sagt Suryanto. "Am frühen Morgen. Mehrere Stunden vom Haus entfernt. Am Ufer des Flusses Merang." - "Ganz in der Nähe unseres Projektgebietes", werfen die anderen ein. Sie alle tragen das gleiche T-Shirt. Wir sitzen in ihrem klimatisierten Projektbüro.
"Stimmt es eigentlich", will ich wissen, "dass immer wieder Holzfäller von Tigern gefressen werden?" "Bei uns nicht", antworten sie. "Aber in den Nachbarprovinzen soll das schon vorgekommen sein." Ihr Lebensraum werde immer kleiner, erfahre ich. Der Sumatra-Tiger sei vom Aussterben bedroht. "Man sagt, dass noch knapp 200 in den Wäldern leben."
Man braucht Kraft, übernatürliche Kraft
In Palembang leben 1,5 Millionen Menschen. Auf der Fahrt lese ich im Touristenführer, dass die Stadt früher von einer legendären Königin regiert wurde. Ihr zu Ehren wurde ein riesiges Grabmal errichtet, das dann aber auf mysteriöse Weise verschwunden sei. Nur Menschen mit übernatürlichen Kräften könnten es heute noch sehen. Ob es sich mit dem Wald genauso verhält?
Noch vor weniger als hundert Jahren war Sumatra fast komplett von tropischem Regenwald bedeckt. Auf unserer fünfstündigen Fahrt Richtung Norden sehen wir nichts davon, auch nicht als wir auf eine Schotterpiste abbiegen, die uns die letzten zwei Stunden durch eine scheinbar endlose Palmölplantage führt. Es ist schon dunkel, als wir um sieben Uhr abends im Basislager der GTZ ankommen: eine Arbeiterunterkunft mit fünf Etagenbetten, auf dem hektischen Firmengelände eines Fuhrunternehmens. Härter kann man nicht auf dem Boden der Realität aufschlagen! Um sich hier im Urwald zu wähnen, braucht man ganz sicher übernatürliche Kräfte.
Und tatsächlich: Es wimmelt nur so von guten und bösen Geistern, schwarzen und weißen Magiern und durch üble Hexerei furchtbar gestraften Menschen auf den zwei Fernsehkanälen, die die GTZ-Mitarbeiter hier empfangen können. Paranormales und Übernatürliches ist fester Bestandteil der indonesischen Kultur.
Schon nach ein paar Tagen können wir uns selbst ein Bild davon machen. Solichin, der als DAAD-Stipendiat in Freiburg Forstwirtschaft studiert hat und von uns als durch und durch besonnen eingeschätzt wird, bemerkt unseren wachsenden Frust darüber, dass es auch hier in dieser entlegenen Region keinen vollkommen unangetasteten, primären Tropenwald mehr gibt. "Vielleicht ist es ja möglich, dass ihr einen Tiger zu sehen bekommt. Unsere Helfer hier aus der Umgebung haben uns gesagt, dass es im nächsten Dorf einen Magier geben soll, der Tiger herbeirufen kann."
"Was für ein Magier?"
"Ein heiliger Mann." - Wir fragen nach, aber bald ist klar, Solichin und seine Kollegen meinen es vollkommen ernst. Der Magier könne Kontakt zu Geistern aufnehmen, die dem Tiger Bescheid sagen, er möge sich zu einer bestimmten Uhrzeit an einem bestimmten Ort blicken lassen.
"Wie wär's mit übermorgen?" frage ich. Alle nicken. Wir fahren ins Dorf, treffen den Magier aber nicht an und bekommen von den Dorfbewohnern gesagt, übermorgen sei schlecht, denn das sei ja ein Freitag und freitags funktioniere der Zauber nie.
Kein Tiger, dafür Holzfäller
Am nächsten Tag hören wir dann, dass der Freitag doch kein Problem sei. Ich ertappe mich dabei, wie ich mich auf unseren Exkursionen in den Wald öfter mal umsehe. Vielleicht hat der Tiger die Geisternachricht ja falsch verstanden und kommt schon am Donnerstag! Doch statt Raubkatzen und Geistern sehen wir nur Dutzende illegaler Holzfäller, die auch im von der indonesischen Regierung geschützten Projektgebiet ganz unbehelligt ihrem Handwerk nachgehen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass sie die Polizei bestechen und ihre oft wochenlangen Aufenthalte im Wald nur mit der Einnahme von Drogen, Amphetaminen, aushalten. Viele haben einen glasigen Blick.
Freitag, am Tag unserer Abreise, dann in aller Frühe ein Anruf. Der Magier sagt, er könne Tiger mit seiner Zauberei nur vertreiben, wegjagen, zurück in den Wald. Sie zu rufen, sei Frevel.
Auf dem Rückflug lese ich in der Zeitung, dass sich die indonesische Regierung etwas Besonderes ausgedacht hat, um den Sumatra-Tiger vorm Aussterben zu bewahren. In Zukunft dürften sie als Haustiere gehalten werden, das koste nur 70.000 Euro. Dann kann sich ein reicher Palmölplantagenbesitzer, der durch die Waldrodung erst zur Dezimierung der Raubkatzen beigetragen hat, mit seinem Stubentiger ablichten und als Tierfreund feiern lassen.
Seit Beginn der 50er Jahre sind in Indonesien 74 Millionen Hektar Regenwald vernichtet worden, eine Fläche doppelt so groß wie Deutschland. Wie schön wäre es, könnte man ihn einfach zurückzaubern! Das deutsch-indonesische Waldprojekt hat mir gezeigt, dass die Wiederaufforstung ein mühsames und langwieriges Unterfangen ist. Und ist eine im Urwald beheimatete Tierart erstmal ausgestorben, dann lässt sich selbst mit Magie nichts mehr machen. Dann bleiben nur Fossilien.
Autor: Joachim Eggers
Redaktion: Klaus Esterluß