Ein Rabbi als Dragqueen: Plädoyer für die Menschlichkeit
18. Juni 2025"Als schwuler Jude meinen Platz in der religiösen Gemeinschaft einzufordern, hat mir den Mut gegeben, meiner Religion zu widersprechen - bei Themen wie Homophobie, Rassismus, Gaza und Frauenrechten", sagt Rabbi Amichai Lau-Lavie.
Der in Israel geborene Aktivist und Gemeindegründer in New York wurde von der israelischen Ausgabe der Times als "unangepasster spiritueller Anführer" gefeiert, die Jewish Week nennt ihn "einen der spannendsten Denker der jüdischen Welt". In der Filmdoku "Sabbath Queen" steht Lau-Lavie im Mittelpunkt.
Der Rabbi und der Regisseur Sandi DuBowski waren kürzlich in Berlin, um den Film beim Doxumentale (früher Dokumentale) Festival, zu zeigen.
Eine eigene Stimme - im Schatten einer Rabbiner-Dynastie
Schon in jungen Jahren verließ Lau-Lavie Israel. Ende der 90er Jahre zog er nach New York - nachdem eine Zeitung ihn ohne sein Einverständnis als schwul geoutet hatte. Als Neffe des damaligen israelischen Oberrabbiners war er plötzlich zum schwarzen Schaf geworden.
In New York fand er eine neue Gemeinschaft, in der er sich zu Hause fühlte - unter anderem bei den "Radical Faeries", einer queeren, spirituellen Community. Gleichzeitig wollte er seiner religiösen Herkunft treu bleiben: Seine Familie stellt seit 38 Generationen Rabbiner - das geht zurück bis ins 11. Jahrhundert. Sein Großvater, der im Holocaust ermordet wurde, hatte sich kurz vor seiner Deportation in ein Konzentrationslager gewünscht, dass diese Tradition weiterlebt.
Zwischen Drag und Thora
Die Doku "Sabbath Queen" zeigt Lau-Lavies Weg über mehr als 20 Jahre. "Anfangs war ich vor allem von Lau-Levies Dragfigur Rebbetzin Hadassah Gross fasziniert", erzählt Regisseur DuBowski im DW-Gespräch. Lau-Lavies weibliches Alter Ego ist eine weise Witwe von sechs ultraorthodoxen chassidischen Rabbinern, die in ihren Auftritten mit Witz und Tiefe das Patriarchat in Frage stellt.
Neben der schillernden Dragfigur zeigt der Film aber auch, wie Lau-Levie als spiritueller Führer neue Formen jüdischen Gemeindelebens entwickelte: Dazu gehört "Lab/Shul", eine experimentelle Gemeinschaft für spirituelle Zusammenkünfte, die für alle offen ist - selbst "Gott ist optional". Ebenso gründete er das rituelle Theaterprojekt "Storahtelling", das jüdische Traditionen auf kreative Weise ins Heute übersetzt.
Und er ging noch weiter, um auch außerhalb der progressiven Szene mit jüdischen Denkerinnen und Denkern ins Gespräch zu kommen: 2016 ließ er sich vom konservativen Jüdischen Theologischen Seminar (JTS) offiziell zum Rabbi ordinieren.
Bruch mit konservativen Traditionen
Auch danach blieb Lau-Lavie weiter unbequem und testete die Grenzen des traditionellen Judentums aus: Er traute ein schwules Paar - beide waren buddhistische Mönche, und nur einer von ihnen war auch Jude. Zwar erlaubt das konservative Judentum seit 2012 gleichgeschlechtliche Ehen, doch interreligiöse Trauungen durch Rabbiner sind weiterhin verboten - viele sehen in den sogenannten Mischehen eine Gefahr für die Zukunft des Judentums. Mit dieser Trauung brach Lau-Lavie offiziell mit der konservativen Rabbinervereinigung.
Für ihn geht es nicht um Vorschriften, sondern um einen Glauben, der Vielfalt zulässt und lebt. Er wünscht sich ein gesundes jüdisches Ökosystem mit vielen Arten, jüdisch zu sein.
Mit seinem Projekt "Below the Bible Belt" interpretiert er die hebräische Bibel aus queerer Sicht: Es geht ihm darum, die alten Texte neu zu lesen, sagt er im DW-Interview. "Ich versuche, aus der Bibel die Geschichten und die Spuren von Gerechtigkeit, Liebe, Moral, Menschlichkeit, Würde und Wandelbarkeit herauszuarbeiten - all das, was schon immer darin vorhanden war."
Das Grauen in Gaza muss aufhören
Der Film endet nach den Hamas-Angriffen vom 7. Oktober. Schon in den ersten Monaten des Krieges äußerte sich Lau-Lavie kritisch zur Reaktion der israelischen Regierung: "Ich trage den Schmerz meiner israelischen Familie mit", sagt er. "Aber unser Trauma und unser Bedürfnis nach Sicherheit rechtfertigen nicht, dass Israel zehntausende Palästinenser in Gaza aushungert und tötet oder die Besatzung fortsetzt. Dieses Grauen muss aufhören."
Politisch suche er die Begegnung in der komplexen, nicht eindeutigen Mitte - nicht in den Extremen. Doch wenn er Menschen begegne, die keinerlei Empathie für Kinder in Gaza zeigen, sehe er keine Grundlage mehr für Diskussionen. "Es ist nicht unwahrscheinlich, dass wir auf einen Kulturkampf in Israel zusteuern. Ich wüsste nicht, wie das noch zu verhindern ist."
Für einen israelisch-palästinensischen Frieden
Lau-Lavie ist Mitglied in verschiedenen Menschenrechtsorganisationen und Netzwerken, die sich für israelisch-palästinensischen Frieden einsetzen. Er kehrt regelmäßig nach Israel zurück. Demnächst wird er "Sabbath Queen" drei Wochen lang in Folge in unterschiedlichen Gemeindezentren, Synagogen und Friedensinitiativen zwischen Israelis und Palästinensern zeigen. Die Gespräche dort helfen nicht nur anderen, sondern geben auch ihm selbst Halt - in einer "zunehmend schmerzhaften Situation".
Mit Blick auf sein Engagement für Frieden und Mitgefühl gegenüber allen palästinensischen und israelischen Menschen sagt er fast resigniert: "Was ich sage, ist eigentlich ein alter Hut, beinahe ein Klischee: 'Beide Seiten', 'Team Menschlichkeit'. Aber diese nicht mehr vorhandene Empathie ist einfach unfassbar."
Trotz allem merkt er, dass die Diskussionen, die durch den Film angestoßen werden, großes Interesse wecken - besonders jetzt, wo eine ganz bestimmte Strömung im Judentum das Gespräch an sich gerissen habe. "Ich bringe die Seite des Jüdischen ein, die sich so viele Menschen wünschen", sagt Amichai Lau-Lavie. Eine Linie, in der "Moral, Nächstenliebe und universelle Werte" schon immer eine große Rolle gespielt hätten. "Und ich bin damit nicht allein."
Adaption aus dem Englischen: Silke Wünsch