Präsident Robert Kotscharjan über Meinungsfreiheit, Opposition und die Wirtschaftslage in Armenien
16. Januar 2003Anzeige
Köln, 16.1.2003, DW-radio / Russisch
In Deutschland weilte zu einem zweitägigen offiziellen Besuch der armenische Präsident Robert Kotscharjan. Am Mittwoch (15.1.) besuchte er die Deutsche Welle und gab unserem Sender ein Interview.
Frage:
Herr Präsident, erlauben Sie ein empfindliches Thema anzuschneiden – die politischen Verbrechen im Lande. Die blutverschmierten Wände im Parlament im Jahre 1999 sind noch gut in Erinnerung. Leider ging das vergangene Jahr mit dem Mord an dem Leiter des öffentlich-rechtlichen Fernsehens Armeniens, Tigran Nagdaljan, zu Ende. Sie versicherten in einer Ansprache an das armenische Volk, die Schuldigen zu finden und zu bestrafen. Bezieht sich das nur auf die unmittelbaren Vollstrecker oder auch auf diejenigen, die hinter den Kulissen Morde in Auftrag geben?Robert Kotscharjan:
Obwohl ich Präsident bin, kann ich nicht entscheiden, wer Mörder und wer Auftraggeber ist. Dafür gibt es die Rechtsschutzorgane, die sich zurzeit sehr intensiv damit befassen. Das war ein schwerer Schlag gegen mein Team.Frage:
Der Europarat ist über diesen Mord besorgt. Es gab eine entsprechende Erklärung, in der Besorgnis über die Lage der Meinungsfreiheit in Armenien insgesamt geäußert wurde. Hat die Opposition die gleichen Möglichkeiten erhalten, ihre Popularität zu steigern, und kann sie die Bevölkerung über die Medien erreichen?Robert Kotscharjan:
Die Erklärung des Europarates betraf nicht die Meinungsfreiheit in Armenien insgesamt. In fünf Jahren meiner Präsidentschaft hatte kein einziger oppositioneller Journalist in Armenien Probleme. Niemand ist zusammengeschlagen worden und niemand ist inhaftiert worden, nicht einmal für einen Tag. Zu leiden hatten Journalisten aus meinem Team. Hier handelt es sich um einen Mann, der nicht nur einfach Journalist war, sondern der ein Amt inne hatte und zu der Tätigkeit mit einem Erlass des Präsidenten berufen wurde. Was den Zugang zu den Medien betrifft, so gibt es in Armenien mehr als 20 Fernsehsender. Sie sind alle in privater Hand, außer einem, der bei uns als öffentlich-rechtlich bezeichnet wird. Das Gesetz über diesen Fernsehsender ist in vollem Einvernehmen und mit Hilfe von Experten des Europarates verabschiedet worden. Alle anderen Sender sind privat. Auf jeden Fall sind im Wahlkampf, diesen Monat, nicht nur das öffentlich-rechtliche Fernsehen, sondern auch alle anderen Fernseh- und Radiosender dazu verpflichtet, einen gleichberechtigten Zugang und gleiche Gebühren zu gewährleisten. Hier habe ich viel schlechtere Möglichkeiten als die Opposition, da sie gleichzeitig mehrere Kandidaten aufgestellt hat.Frage:
Die Opposition wirft Ihnen schon jetzt vor, die administrativen Ressourcen auszunutzen, beispielsweise damit, dass Sie den armenischen Verteidigungsminister Sersch Sarkisjan zum Leiter Ihres Wahlstabs ernannt haben. Wird er als Minister eines Machtorgans die Wähler in geordneten Reihen zu den Wahlurnen führen?Robert Kotscharjan:
Wenn ich jetzt nicht in Köln wäre, müsste ich mich nicht wundern. Glauben Sie, dass der armenische Verteidigungsminister ein Mann in Uniform sein muss, der den Rang eines Generals hat und auf einen Platz marschiert? Dieser Mann ist Politiker. Er hat keinen militärischen Rang und im militärischen Dienst nimmt er eine politische Tätigkeit wahr. Er kommt aus dem Team des Präsidenten und zusammen mit mir nahm er auch an den Wahlen 1998 teil. Wir arbeiten seit 1980 zusammen. Die Struktur der Staatsverwaltung ist bei uns bereits reformiert. Vertreter der Machtorgane nehmen bei uns kein Ministeramt wahr. Das ist ein politisches Amt.Frage:
Andere Kandidaten können im Wahlkampf Versprechen abgeben. Der jetzige Präsident wird jedoch danach beurteilt, was bisher erreicht wurde. Der Mindestlohn beträgt in Armenien umgerechnet etwa 10 US-Dollar. Experten meinen, dass der Warenkorb eines armenischen Verbrauchers umgerechnet 30 bis 35 US-Dollar kostet. Wenn man den Angaben glaubt, dann lebt mehr als die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Oft wird die Strom-, Wärme- und Wasserversorgung abgeschaltet. Wie man sagt, sind hier Kommentare überflüssig. Was sagen Sie in Anbetracht dieser Tatsachen den Wählern?Robert Kotscharjan:
Ich habe den Eindruck, Sie haben das Land verwechselt. Sprechen wir über Armenien? Es ist klar, dass ich Rechenschaft dafür ablegen muss, was in den vergangenen fünf Jahren getan wurde. Deswegen wird schon bald eine Broschüre verteilt, in der ich Rechenschaft ablege. Die wichtigsten Zahlen sind natürlich niedrig. Aber sie müssen in erster Linie in einem Vergleich mit dem bewertet werden, was ich 1998 übernommen habe, und auch mit dem Ergebnis, mit dem ich bei den neuen Wahlen antrete. Wir werden dieses Jahr mit einem Wirtschaftswachstum von 12,5 Prozent abschließen. Vergangenes Jahr erreichte das Wachstum 9,6 Prozent und im Jahr davor 6 Prozent. Der Entwicklungsprozess ist stabil und jedes Jahr werden im Durchschnitt 40 000 neue Arbeitsplätze geschaffen, und das nicht vom Staat, sondern von der privaten Wirtschaft. (MO)Anzeige