Privilegien contra Demokratie
8. August 2003Köln, 8.8.2003, DW-radio
In vielen Nachfolgestaaten der Sowjetunion haben sich autokratische Regime etabliert, an deren Spitze ein Präsident mit großer Machtfülle steht. Fast 20 Jahre, nachdem Michail Gorbatschow "Glasnost" - Transparenz - und "Perestrojka" - politische und gesellschaftliche Umgestaltung - propagiert hat, ist in diesen Ländern von Demokratie kaum etwas zu spüren. Stattdessen grassieren in den zentralasiatischen und kaukasischen Staaten Machtmissbrauch, Korruption und Armut. Aber auch im europäischen Teil der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten steht es mit der Demokratie nicht zum Besten. Ute Schaeffer kommentiert:
Der "Vater aller Turkmenen" Saparmurad Nijasow hat ein sorgenfreies Leben - keine Parteien stören ihn in der Ausübung seines Amtes, keine Opposition versammelt sich auf der Straße und demonstriert gegen die soziale Ungerechtigkeit im Land, kein Journalist kritisiert an seinem autoritären Stil herum. Lebenslang ist ihm das lukrative höchste Amt im Staat sicher. Und Rechenschaft ist er keinem schuldig. Keine Frage: der totalitäre Schreckensstaat des "Turkmenbaschi" - eine Art zentralasiatisches Nordkorea - ist unter den Nachfolge-Staaten der Sowjetunion sicher das schlimmste Beispiel für den Machtmissbrauch im Präsidentenamt.
Doch auch andernorts in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion sind Methoden des Machterhalts bekannt, die mit demokratischen Spielregeln nichts zu tun haben: Im Südkaukasus-Staat Aserbaidschan gab es diese Woche eine geradezu dynastische Thronfolge - und das, obwohl dort regelmäßig Parlament und Präsident gewählt werden. Präsident Hejdar Alijew ließ seinen Sohn Ilham zum Regierungschef küren. Damit übernimmt dieser im Vertretungsfall die Amtsgeschäfte des Vaters. Und noch wichtiger: Er hat gute Chancen, dem sterbenskranken Alijew im Amt zu folgen.
Die geschickt eingefädelte Machtübergabe vom Vater an den Sohn in Aserbaidschan zeigt einmal mehr, dass die Unabhängigkeit in vielen Nachfolgestaaten der Sowjetunion nur den Übergang von einem autoritären System zu einem anderen bedeutet hat: Die politische Macht wird über hohe und höchste Posten im Staat vererbt und weitergereicht - sie bleibt in der Familie. Die jeweiligen Verfassungen werden zum Zweck des Machterhaltes geändert oder außer Kraft gesetzt.
So denkt auch der ukrainische Präsident Leonid Kutschma im Jahr vor der Präsidentschaftswahl laut über Verfassungsänderungen nach, die eine Fortsetzung seiner Präsidentschaft über das Jahr 2004 hinaus möglich machen würden. Und so ließ sich der tadschikische Präsident Emomali Rachmonow erst vor kurzem über ein Referendum seine Amtszeit bis 2006 verlängern. Rachmonow wie Kutschma stammen aus der alten sowjetischen Nomenklatura. Sie kamen Mitte der 1990-er Jahre an die Macht, gehören nicht zur Riege der Unabhängigkeitskämpfer, der "politischen Idealisten". Einen Generations- und Eliten-Wechsel hat es in der Mehrzahl der postsowjetischen Staaten bis heute nicht gegeben.
Ausnahme sind die baltischen Staaten: Durch einen konsequenten Wechsel der politischen Elite nach der Unabhängigkeit und durch eine klare ökonomische und wirtschaftliche Orientierung nach Nord- und Westeuropa haben sich Demokratie und Rechtsstaat durchgesetzt. Hier sind Parteien nach Programmen unterscheidbar, repräsentiert das Parlament den Willen des Volkes, gibt es eine freie Presse, sprechen Richter ihre Urteile unabhängig von der Politik.
Von den meisten anderen postsowjetischen Staaten lässt sich das nicht sagen: So hat im ukrainischen Parlament eine Mehrheit das Sagen, die das Wahlergebnis der Parlamentswahlen konterkariert. So sind Gerichtsurteile - wie in Aserbaidschan - abhängig von der Entscheidung der Exekutive. Von Kiew bis Taschkent ist das Präsidentenamt mit großen Vollmachten ausgestattet. Der Präsident ernennt und entlässt den Ministerpräsidenten und die Minister. Er ist dem Parlament gegenüber nicht verantwortlich, kann Rechtsverordnungen erlassen und das Parlament auflösen. Seine Vollmachten erstrecken sich auch auf die Judikative, wo er das Vorschlagsrecht für die Ernennung von Richtern hat. Von Gewaltenteilung keine Spur.
Aber das muss auch gar nicht sein - dieser Ansicht ist eine wachsende Zahl von Politikern. In den meisten Staaten hat sich das Leitbild des starken Staates - und damit auch des starken Präsidenten - durchgesetzt. Eine Übernahme westlicher Demokratie-Modelle wird nicht gewünscht. Stattdessen versucht man sich im Rückgriff auf östliche Traditionen autokratischer Herrschaft. Auch Wladimir Putins zentrale Politik-Begriffe - die "Diktatur des Gesetzes" oder die "Macht-Vertikale" entspringen einem solchen Denken. Und in Staaten wie der Ukraine oder Russland ist an die Stelle der kommunistischen Einheitspartei längst eine mehr oder weniger formierte "Partei der Macht" getreten, die den Präsidenten stützt. Die romantische Periode von "Glasnost" und "Perestrojka" ist vorbei. In Putins Russland erinnert vieles an die Sowjetzeit. Die staatlichen Fernsehkanäle und Zeitungen sind so gut wie gleichgeschaltet. In Tschetschenien führt Moskau einen Krieg, in dem die Menschenrechte keine Rolle spielen.
Diese Beispiele zeigen deutlich: Politik ist in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion dem Volk keine Rechenschaft schuldig. Zum Erbe von sieben Jahrzehnten sowjetischer Herrschaft gehört die Entfremdung der Staatsmacht von der Gesellschaft. Diese ist bis heute spürbar. Das bedeutet auf der anderen Seite: die Menschen interessieren sich kaum für Politik - Politik und Gesellschaft agieren in getrennten Räumen. Nur so lässt es sich erklären, dass Oppositionskundgebungen in Kiew so schnell im Sand verlaufen, dass in Tbilissi keine Menschenmengen wegen der schlechten sozialen Verhältnisse auf die Straße gehen, dass der radikale Islamismus in Zentralasien nicht viel mehr Zulauf hat.
Privilegien - so stellte schon zur Zeit der Aufklärung der Russland-Kenner und deutsche Aufklärer Johann Gottfried Seume fest - seien das Gegenteil von Freiheit und Gerechtigkeit. Die politische Elite in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion hat sich für die Privilegien entschieden. (TS)