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Palästinenser in Dschenin: "Fühlte sich wie Krieg an"

5. Juli 2023

Nach einem der größten Militareinsätze der letzten Jahre im Westjordanland hat Israel seine Truppen über Nacht aus der Stadt Dschenin abgezogen. Tausende Einwohner des dortigen Flüchtlingslagers waren zuvor geflüchtet.

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Drei Palästinenser begutachten Schäden im Flüchtlingslager Dschenin
Der israelische Militäreinsatz hat im Flüchtlingslager Dschenin große Schäden hinterlassenBild: Ronaldo Schemidt/AFP/Getty Images

Am zweiten Tag des Militäreinsatzes fuhr Ahmed kreuz und quer durch die geisterhaft leeren Straßen von Dschenin, um Menschen aus dem Flüchtlingslager zu Verwandten zu bringen. "Ich will einfach nur helfen. Ich wohne auch im Flüchtlingslager und bin jetzt bei meinem Bruder untergekommen." Der junge Mann, der nach eigenen Angaben sonst als Englischlehrer arbeitet, sitzt in seinem Auto vor einem Bürgerzentrum. Schwarze Rauchschwaden hängen über der Stadt im israelisch-besetzten Westjordanland, immer wieder sind Schüsse aus dem Flüchtlingslager zu hören.

Er warte auf weitere Passagiere, erzählt der junge Palästinenser, der seinen vollen Namen nicht nennen möchte: "Ich bringe die Leute einfach dorthin, wohin sie wollen. Nicht jeder im Lager hat ein Auto." Am diesem Dienstag habe er bereits mehrere Familien aus der Gefahrenzone gebracht.

Massiver Militäreinsatz

Israelische Militärrazzien im Flüchtlingslager von Dschenin habe er schon viele erlebt, sagt er, aber diese sei anders: "Es ist nicht neu, dass sie hierherkommen, aber diesmal fühlte es sich wie ein Krieg an. Es ist entsetzlich, was da vor sich geht. Die Welt sollte sehen, was drinnen passiert." 

Die großangelegte Offensive der israelischen Armee begann Montagnacht mit Drohnenbeschuss und dem Einmarsch von Bodentruppen in das dicht besiedelte Flüchtlingslager. In den engen Gassen waren gepanzerte Bulldozer im Einsatz, auf den Dächern waren Scharfschützen postiert.

Gepanzerte israelische Fahrzeuge patrouillieren durch das Flüchtlingslager Dschenin
Israelischen Angaben zufolge zielte die Militäroperation auf die "Zerstörung terroristischer Infrastruktur"Bild: Ronaldo Schemidt/AFP/Getty Images

Die gefährliche Situation machte es Journalisten schwer, direkt aus dem Gebiet zu berichten. Ein Team des katarischen Fernsehsenders Al Araby berichtete, von israelischer Seite beschossen worden zu sein. Unterdessen erklärte die israelische Armee, das Ziel der Operation habe darin bestanden, die "terroristische Infrastruktur" militanter Palästinenser in dem Lager "zu zerstören" und ihnen das Gefühl eines "sicheren Hafens" zu nehmen. Seit über einem Jahr hatte das israelische Militär nach einer Reihe tödlicher Anschläge durch Palästinenser in Israel und dem Westjordanland seine Razzien im besetzten Westjordanland intensiviert. In den letzten Wochen hatten die Ultranationalisten innerhalb der israelischen Regierung zunehmend Druck gemacht, mit einer Operation auf eines der tödlichsten Jahre in dem Konflikt seit 2005 zu reagieren.

"Keinen kümmert, was uns hier passiert"

In Dschenin wurden nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums bislang zwölf Menschen getötet und mehr als 120 verletzt, darunter mindestens 20 schwer. Die israelische Armee behauptet, alle Getöteten seien Kämpfer gewesen. Die Terrorgruppe Islamischer Jihad hat bisher acht Opfer eingeräumt. Auch ein israelischer Soldat wurde in der Nacht zum Dienstag getötet. Tausende Einwohner flohen aus dem direkten Kampfgebiet, um in anderen Teilen der Stadt Schutz zu suchen.

Frau in geblümtem Überkleid (Abaya) und Hidschab sitzt auf einer Bank vor eine Hecke, neben ihr Wasserflaschen dahinter ein Haufen alter Kartons
Saeda Ahmad musste ihr Haus Hals über Kopf verlassen, als die Militäroperation begannBild: Tania Kraemer/DW

Vor demselben Bürgerzentrum wie Ahmed sitzt auch Saeda Ahmad sichtlich erschöpft und müde auf einer Bank. Vor ihr verteilen  Helfer Essen, Wasser und Decken. "Wir sind einfach los, haben nichts mitgenommen außer dem, was wir anhaben", erzählt sie der DW. "Meine Tochter hat Asthma. Der Strom fiel aus, und ich konnte ihr Atemgerät nicht mehr anstellen. Überall war Rauch und Tränengas. Es war das totale Chaos, die Leute wussten nicht, wohin sie sollten, es wurde laut geschrien, dass wir gehen sollten. Es war furchtbar." Die Familie ist bei Verwandten im Stadtgebiet von Dschenin untergekommen, Saeda hofft, dass sie bald wieder nach Hause können. "Keinen kümmert, was uns hier passiert, nicht die arabischen Staaten, niemanden", sagt sie verzweifelt.

Dschenin: "Rückzugsort für Terrorismus"?

Das palästinensische Flüchtlingslager in Dschenin gibt es seit den 1950er Jahren. Damals wurde es zur Heimat palästinensischer Flüchtlinge, die vor und während des Israelisch-Arabischen Kriegs 1948 vertrieben wurden. Seit 1995 untersteht Dschenin der Palästinensischen Autonomiebehörde, doch ihre faktische Kontrolle insbesondere über das Flüchtlingscamp ist limitiert. Razzien der israelischen Armee in Gebieten, in denen die Autonomiebehörde für Verwaltung und Sicherheit zuständig ist, sind keine Seltenheit. 

Noch während der Militäroperation verübte ein junger Palästinenser einen Anschlag in Tel Aviv, bei dem sieben Israelis verwundet wurden. Seit dem letzten Jahr waren Dschenin und weitere Orte im Norden des besetzten Westjordanlands Ziel intensiver Militäreinsätze und Razzien. Israel sagt, dass ein Großteil der Militanten, die im letzten Jahr in Anschläge in Israel und dem Westjordanland involviert waren, aus dieser Gegend komme.

Bei einem Briefing auf einer Militärbasis nahe Dschenin am Dienstagnachmittag sagte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu: "Wir werden es nicht erlauben, das Dschenin wieder zu einer Stadt wird, die dem Terrorismus einen Rückzugsort bietet. Wir werden den Terror bekämpfen und ausrotten, wo immer wir ihn sehen."

Rauch, Sirenen und Rettungseinsätze

Am Rande des Flüchtlingslagers steigt schwarzer Rauch von brennenden Gummireifen und Müllcontainern auf. An der Ecke einer leeren Straße, die in das Lager führt, stehen Krankenwagen und warten auf den nächsten Einsatz. "Im Moment arbeiten wir nicht in Schichten, sondern rund um die Uhr. Wir tun, was wir können", sagt der Sanitäter Salah Ez El Deen Zabadna, der seit 20 Jahren für den Palästinensischen Roten Halbmond arbeitet. Sein Team hat gerade Lebensmittel an ein Hotel geliefert, in dem geflüchtete Bewohner untergebracht sind. "Für uns ist das fast schon Routine", sagt Zabadna, dessen Team im Laufe der Jahre schon viele israelische Razzien erlebt hat. "Unser Job ist es, Leben zu retten. Aber wegen des Militäreinsatzes können wir nicht jederzeit hineingehen. Wir können uns nicht immer sofort in Bewegung setzen, wenn wir es eigentlich müssten."

Der palästinensische Sanitäter Ez El Deen Zabadna gestikuliert vor seinem Rettungswagen, im Hintergrund ein weiteres Ambulanz-Fahrzeug
Der palästinensische Sanitäter Ez El Deen Zabadna arbeitet seit 20 Jahren für den Roten HalbmondBild: Tania Kraemer/DW

Nicht weit entfernt sind erneut Schüsse zu hören. Ein junger palästinensischer Autofahrer ruft den umstehenden Passanten zu: "Seid vorsichtig, da hinten sind israelische Soldaten." Schon sind wieder Sirenen zu hören, als einer der Krankenwagen losfährt.

Auch der 15-jährige Laith hat den Militäreinsatz aus nächster Nähe miterlebt. Er lebt mit seiner Familie am Rande des Flüchtlingslagers, aber viele seiner Verwandten und Freunde wohnen mittendrin. "Ich hatte viel Angst gestern Nacht. Es macht mich traurig, was da passiert. Ich vermisse meine Freunde, ich weiß nicht, was mit ihnen passiert ist." Eigentlich habe er auf einigermaßen unbeschwerte Sommerferien gehofft. Doch jetzt gehe es darum, mitzuhelfen - und später wieder sicher nach Hause zu kommen. "Ich wünsche mir, dass die Besatzung endet, dass ich in meinem Leben noch Frieden erleben kann", sagt der junge Schüler. "Aber ich weiß nicht, was noch kommt. Es liegt nicht in unserer Hand, nur in der Hand Gottes."

Porträt einer Frau mit dunklen Haaren
Tania Krämer DW-Korrespondentin, Autorin, Reporterin