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Neuanfang in Afghanistan

Peter Philipp7. Juni 2002

Am Montag wird die afghanische Führung über die Zukunft des Landes beraten.

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Ratsversammlung in AfghanistanBild: AP

Afghanistan auf dem Weg zur Normalität. Eine schöne Perspektive nach mindestens 23 Jahren politischer und militärischer Wirren und menschlichen Elends unvergleichbaren Ausmaßes. Aber: Wird die Loya Jirga - die große Stammesversammlung, die am Montag in Kabul beginnt - wirklich die Lösung der afghanischen Probleme in Angriff nehmen können? Bei allem guten Willen, den die Beteiligten und die internationale Gemeinschaft demonstrieren: Es geht nicht einfach nur darum, nach einer Ära des Dunkels einen demokratischen Neuanfang zu machen, sondern eher: überhaupt erst bei Null anzufangen. Oder doch wenigstens "nahe Null". Die Strukturen Afghanistans sind so unterschiedlich von denen anderer Staaten, dass man nicht einfach deren Lösungs-Rezepte auf das Land am Hindukusch übertragen könnte. Und die Afghanen sind - das haben nicht nur fremde Besatzer, sondern auch Freunde immer wieder erleben müssen - von einem unbändigen Selbständigkeitsdrang beseelt und von tiefem Misstrauen gegenüber jedem Versuch, ihnen einen fremden Willen aufzuzwingen.

In der Historie bekammen dies die Briten ebenso zu spüren wie das Deutsche Reich und schließlich die Sowjets. Zudem gab es i n Afghanistan schon immer nur schwache Zentralregierungen, weil die regionalen "Fürsten" sich von Kabul nicht hereinreden lassen wollten. Diese alten Widersprüche sind mit der Entmachtung der Taleban wieder an die Oberfläche getreten. Und sie produzieren Trennungslinien wie auch Allianzen entlang regionalen, religiösen und ethnischen Zugehörigkeiten.

Die Vereinten Nationen haben längst eingesehen, dass Afghanistan nicht einfach in ein Raster der verschiedenen Ethnien aufzuteilen ist, dem dann ein politischer Proporz zwischen diesen verschiedenen Volksgruppen folgte. Und sie haben auch verstanden, dass fremde Interessen - etwa Pakistans oder des Iran - in Afghanistan nicht einfach 'abgeschaltet' werden können. Die Loya Jirga muss mit ihren rund 1500 Delegierten all diesen Aspekten gerecht werden, bevor sie überhaupt ihre Arbeit aufnehmen kann.

Und dann wird sie sich - einstimmig und nicht wie anderswo mehrheitlich - für eine Übergangsregierung entscheiden müssen, die in den nächsten zwei Jahren verantwortlich sein wird für die Vorbereitung einer Verfassung und freier Wahlen. Damit Afghanistan endlich "ein Staat wie alle anderen" werden kann.

Diese Zielvorgabe, die aus den Beschlüssen der Afghanistan-Konferenz Ende vergangenen Jahres auf dem Petersberg bei Bonn resultiert, mag ein frommer Wunsch sein. Und das liegt sicher nicht allein an der Eigenart der Afghanen. Sondern auch daran, dass es einen "normalen Staat" in idealisierter Form einfach nicht gibt. Nirgendwo. Jeder Staat hat seine eigenen Besonderheiten und Eigenarten.

Dieser Befund gilt gerade für Afghanistan. Hier stellt sich zum Beispiel die Frage, wie die künftige Regierung mit den in letzter Zeit wieder erstarkten Regionalherrschern umgeht - unter ihnen gefährliche 'warlords'. Und es gibt die Frage, wie die Vergangenheit aufgearbeitet werden soll: mit Prozessen und harten Urteilen - oder eher wie in Südafrika, wo es mehr um Wissen geht, als um Strafe oder Rache.

Und letztlich werden sowohl die Loya Jirga als auch die von ihr gewählte Übergangsregierung beweisen müssen, dass sie nicht einfach Marionetten der Vereinten Nationen oder der USA sind. Sondern dass sie als Afghanen im Interesse Afghanistans handeln. Insgesamt sicher keine leichte, aber eine lohnenswerte Aufgabe.