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PolitikIsrael

Netanjahu: Politische Manöver ohne Rücksicht auf Geiseln?

21. März 2025

Israels Premier lässt wieder Angriffe gegen Gaza fliegen. Das wird von vielen Israelis kritisiert. Aus ihrer Sicht handelt Netanjahu im eigenen Interesse, aber nicht im Interesse der verbliebenen Geiseln.

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Demonstranten schützen sich mit Regenschirmen gegen den Regen bei einer Demonstration in Jerusalem
Demonstranten versammelten sich vor der Knesset, um gegen die Entlassung des Geheimdienstes zu protestierenBild: Ohad Zwigenberg/AP Photo/picture alliance

In den vergangenen Tagen haben tausende Israelis wieder einmal für ein neues Geiselabkommen protestiert - und gegen die politischen Manöver des rechts-religiösen Regierungsbündnisses unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu . 

Am Donnerstagabend wandten sich die Demonstranten in Jerusalem zudem gegen die Entlassung von Ronen Bar, den Leiter des israelischen Inlandsgeheimdienstes Schin Bet. Netanjahu hatte Anfang der Woche erklärt, er habe das Vertrauen in Bar verloren und ihn deshalb entlassen. 

In einer Nachtsitzung habe das Kabinett die Entscheidung Netanjahus, Bar mit Wirkung zum 10. April seines Amtes zu entheben, "einstimmig gebilligt", teilte das Büro des Ministerpräsidenten mit. Am Freitag setzte jedoch der Oberste Gerichtshof Israels die Entlassung vorerst aus. Nun muss bis spätestens 8. April eine Anhörung erfolgen.

"Beispielloser Interessenskonflikt"

Bar war bei der Kabinettssitzung nicht anwesend, schickte jedoch einen Brief an die Minister, in dem er sich auf die laufenden Ermittlungen Schin Bets gegen führende Berater Netanjahus bezog. Ihnen wird vorgeworfen, Gelder für die Förderung der Interessen Katars angenommen zu haben. Die Entlassung des Leiters des Geheimdienstes "stinkt nach ausländischen Interessen", warnte Bar in seinem Brief. Es handle sich um einen "beispiellosen Interessenskonflikt".

Bei den Protesten wurde auch die erneute israelische Offensive in Gaza verurteilt, die Netanjahu angeordnet hatte. Die seit zwei Monaten anhaltende Waffenruhe wurde dadurch unvermittelt beendet. Hunderte Palästinenser sind getötet oder verletzt. Die Freilassung der in Gaza verbleibenden Geiseln hängt in der Schwebe.

Netanjahus politischer Balanceakt

Seit Wochen laviert Netanjahu zwischen den Drohungen seiner rechtsextremen Regierungspartner, die Regierung zu stürzen, sowie seinem eigenen politischen Überleben und den Forderungen vieler Israelis. Ihnen ist die Rückkehr der Geiseln wichtiger als die versprochene Niederlage der radikalislamischen Hamas. 

Viele Israelis glauben zudem, Bars Entlassung habe mit den Ermittlungen zu Netanjahus Versäumnissen vor und am Tag des Angriffs der Hamas am 7. Oktober 2023 zu tun. Berichten zufolge deuten die Untersuchungen darauf hin, dass die Maßnahmen des Premiers zur Eindämmung der Hamas versagt hatten. Die militant-islamistische Palästinenserorganisation wird von der EU, den USA und anderen Ländern als terroristische Organisation eingestuft. 

Im Februar nahm Schin Bet zudem Ermittlungen zu angeblichen Verbindungen zwischen hochrangigen Beratern im Büro des Ministerpräsidenten und Katar auf, einem wichtigen Geldgeber der Hamas in den vergangenen Jahren. Einzelheiten zur Untersuchung können wegen einer Nachrichtensperre nicht veröffentlicht werden.

Ronen Bar, Chef des israelischen Geheimdienstes Shin Bet
Der Oberste Gerichtshof des Landes hat die Entlassung von Ronen Bar vorübergehend ausgesetztBild: COHEN-MAGEN/AFP/Getty Images

Die israelische Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara stellte sich gegen den Plan Netanjahus, Bar zu entlassen. Ohne "faktische und rechtliche Grundlage" könne der Ministerpräsident die Amtsenthebung nicht umsetzen, sagte sie. Daraufhin warf Netanjahu Baharav-Miara vor, ihr Amt zu missbrauchen. Andere Regierungsmitglieder sagten, sie sollte als Nächste gefeuert werden.

Bar handelte wie auch andere Vertreter des israelischen Geheimdienstes: Er übernahm die Verantwortung dafür, dass es nicht gelang, die Hamas-Anschläge vom 7. Oktober zu verhindern. Er erklärte seine Absicht, vor Ende seiner Amtszeit zurückzutreten. Doch auch wenn die Mehrzahl der Israelis einen Rücktritt Bars begrüßen würde, lehnen sie die Gründe für seine Entlassung ab.

Die Regierung Netanjahu ist auf die extreme Rechte angewiesen

"Das Timing legt nahe, dass es um politische Interessen geht", schrieb Yoav Limor, Journalist der konservativen Gratiszeitung "Israel Hayom" am 19. März. "Durch einen seltsamen Zufall kehrte Itamar Ben-Gvir in die Regierung zurück, kurz nachdem die Kämpfe wiederaufgenommen wurden und kurz nach der von Ben-Gvir geforderten (noch nicht erfolgten) Amtsenthebung des ISA-Leiters Bar."

Bis zu seinem Rücktritt im Januar war Ben-Gvir Minister für Nationale Sicherheit. Er hatte die Regierung wegen des Waffenstillstands- und Geiselabkommens mit der Hamas verlassen. Nur wenige Stunden, nachdem Israel seine Luftangriffe auf palästinensisches Gebiet am Dienstag wiederaufnahm, trat er der Regierung wieder bei.

Itamar Ben-Gvir in dunklem Anzug mit weißem Hemd und weißer Kippa
Rechtsextremen Koalitionsmitglieder wie Itamar Ben-Gvir (im Bild) braucht der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, um verlässliche Mehrheiten zu bekommenBild: Ohad Zwigenberg/AP/dpa/picture alliance

Finanzminister Bezalel Smotrich, ein weiterer rechtsextremer Minister, bildet weiterhin einen Teil der Regierungskoalition. Er hatte mehrfach gedroht, die Regierung zu verlassen, sollte diese eine zweite Phase des Waffenstillstandsabkommens aushandeln und umsetzen.

In der zweiten Phase sollten die verbleibenden 59 Geiseln schrittweise entlassen und das israelische Militär vollständig aus Gaza abgezogen werden, um den Krieg dauerhaft zu beenden. Öffentliche Meinungsumfragen zeigten stets eine breite Unterstützung der Bevölkerung für den Übergang zur zweiten Phase. 

Kurz vor einer entscheidenden Abstimmung über den Staatshaushalt stärkt die Unterstützung dieser zwei zentralen Koalitionspartner Netanjahus Mehrheit in der Knesset, dem israelischen Parlament. Würde der Haushalt nicht bis zum 31. März verabschiedet, müsste das Parlament aufgelöst werden und es gäbe Neuwahlen.

Vorwürfe, er würde aus politischem Kalkül handeln, hat Netanjahu zurückgewiesen. Für das Ende der Waffenruhe macht er die Hamas  verantwortlich sowie ihre Weigerung, weitere Geiseln zu entlassen.

Ehemalige Geiseln sprechen sich gegen israelische Offensive aus

Kritiker werfen Netanjahu vor, er wolle mit seinen jüngsten Handlungen verhindern, dass seine Regierung die Verantwortung für die Angriffe vom 7. Oktober übernehmen muss. Bislang hat Netanjahu alle Versuche, eine staatliche Untersuchungskommission einzurichten, mit dem Hinweis abgewehrt, dies solle erst nach Ende des Krieges erfolgen.

Die neuerliche israelische Offensive und Netanjahus Strategie, maximalen Druck auf die Hamas auszuüben, haben die Hoffnungen vieler Geiselangehöriger zerschlagen. Am Dienstag machten sich einige von ihnen auf den Weg zur Knesset. Sie fürchten um das Schicksal ihrer Familienangehörigen. Das Forum der Geisel-Familien, eine Dachorganisation, die viele der Familien der Geiseln vertritt, warf der Regierung vor, die verbleibenden 59 Geiseln in Gaza aufzugeben. Mindestens 24 von ihnen sollen noch am Leben sein.

Auch ehemalige Geiseln kritisierten die neue Offensive. Eine dieser Geiseln, Iair Horn, sprach am Dienstag bei einer Demonstration in Tel Aviv. Er wurde Mitte Februar freigelassen, sein Bruder Eitan befindet sich jedoch noch in Gefangenschaft. "All die [Hamas-Propaganda-]Videos, die ihr von mir und Eitan, von Matan Angrest, von Guy Gilboa-Dalal und Evyatar David gesehen habt, all diese Videos waren Lebenszeichen und ich hoffe, dass es nicht die letzten Aufnahmen von ihnen sind, weil die Kämpfe wiederaufgenommen wurden", sagte er in seiner Rede.

Viele der Geiseln, die während der ersten Phase der Waffenruhe aus Gaza zurückkehrten, berichteten, wie sich ihre Bedingungen jeweils in Reaktion auf die Maßnahmen der Regierung verschlechtert hatten. Sie erzählten davon, wie sie geschlagen und ausgehungert wurden oder psychischen Missbrauch durch ihre Geiselnehmer erleiden mussten. Einer der Demonstranten in Jerusalem, der seinen Namen nicht nennen wollte, sagte zur DW: "Um die Hamas können wir uns später kümmern. Aber jetzt geht es um die Geiseln, sie haben keine Zeit. Sie müssen zurückkehren."

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.

Porträt einer Frau mit dunklen Haaren
Tania Krämer DW-Korrespondentin, Autorin, Reporterin