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Nach den letzten Parlamentswahlen in Ungarn

24. Mai 2002

- Trendwende in der politischen Kultur

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Budapest, 22.5.2002, BUDAPESTER ZEITUNG, deutsch

Der knappe Wahlsieg der Sozialisten und die Aktivität des Fidesz (Bund Junger Demokraten - MD) schaffen eine neue Situation im politischen Leben Ungarns, die viele unberechenbare Faktoren enthält. Beobachter der politischen Szene rätseln, ob das Land auf eine konfrontative oder konsensuelle Demokratie hinsteuert.

Der Fidesz sorgt noch immer für Überraschungen, wenn auch auf eine Art und Weise, die von vielen abgelehnt wird. Die giftige Atmosphäre des Wahlkampfs und die Weigerung des Fidesz, seine Wahlniederlage anzuerkennen, schaukelten die Gefühle hoch und spalteten die zwei politischen Lager noch mehr in zwei feindliche Blöcke. Die politische Kultur des Landes schien in eine Zerreißprobe zu geraten, wobei Besorgnisse und Hoffnungen sich abwechselten.

Viktor Orbán gelang es als einzigem Politiker Osteuropas, fast alle rechten Parteien in einer einzigen zu vereinigen, noch dazu im individualistischen Ungarn. Doch der Preis dafür war zu hoch. Der Fidesz wurde viel zu sehr vom Stil eines Mannes, von seinem Voluntarismus und autoritären Stil geprägt. Der überwiegende Teil der Gesellschaft empfand dies als bedrohlich, Orbáns Scheitern erfolgte, auch konservativen Kritikern wie József Debreczeni zufolge, weil er nach zuviel Macht auf einmal greifen wollte.

Das Paradoxe am Erfolg des Fidesz und somit an der gegenwärtigen politischen Kultur Ungarns ist die Tatsache, dass die Fidesz-Politiker unverändert mit dem Anspruch auftreten, das Neue, Fortschrittliche zu vertreten, gewissermaßen eine dynamische Avantgarde zu sein, die als einzige das Rezept für eine schöne neue Welt kenne. Sie verwenden dabei jedoch Mittel, die stark an die Methoden der ehemaligen Staatspartei erinnern. Folgerichtig nannte der ehemalige MDF (Ungarisches Demokratisches Forum - MD)-Politiker György Raskó den Fidesz eine neubolschewistische Partei.

Dem ist hinzuzufügen, dass jede Art Blockbildung, besonders wenn sie mit einem ausschließlichen Wahrheitsanspruch auftritt, faschistoide Tendenzen enthält, egal ob ihre politische Ausrichtung eine rechte oder linke ist. Die Taktik Orbáns, auf Massenveranstaltungen die Gefühle seiner Anhänger hochzupeitschen und seine Gegner zu verunsichern, lässt jedenfalls nicht viel Gutes vorausahnen. Die Politik der Straße, die Behandlung des politischen Gegners als Feind, lassen auf die Dauer der Gegenseite keine Wahl. Sie muss sich der Herausforderung stellen und das kann sie nur mit ähnlichen Mitteln tun.

Es ist zu hoffen, dass Orbán diese Politik nur vorübergehend betreibt, bis er sich überzeugt, dass seine beutehungrigen Anhänger wenigstens bis zu den Kommunalwahlen im Herbst nicht auseinanderlaufen. Angesichts der jungen ungarischen Demokratie sollte man jedoch nicht außer Acht lassen, dass bei einer Partei wie dem Fidesz, der vor kurzem noch eine Kleinpartei war, die erwähnten Überzogenheiten in der Streitkultur bis zu einem gewissen Grad auch normale Begleiterscheinungen sind auf dem Weg der Stabilisation der Partei. Diese darf nicht mit einer Einbetonierung verwechselt werden.

Viele Beobachter neigen dazu, die gegenwärtige Situation auch als Chance zu sehen, um die Gegensätze zu überwinden und eine konsensuelle Demokratie aufzubauen. Anlass hierzu geben nicht nur die versöhnlichen Reden Péter Medgyessys, sondern auch die Lage der kommenden Regierungskoalition mit ihrer knappen parlamentarischen Mehrheit - und nicht zuletzt die Tatsache, dass die MSZP (Ungarische Sozialistische Partei- MD) sich öffnen und wirklich zu einer sozialdemokratischen Partei werden muss, wenn sie bei den jüngeren Wählerschichten ankommen will.

Die Regierungsparteien werden sehr viel Feingefühl brauchen, wenn sie die versprochene Aufdeckung der Fidesz-Korruption durchführen wollen. Diese darf nicht zu gelinde und auch nicht zu streng ausfallen, was die attackierten Politiker zum Amoklauf treiben könnte. Auch die versprochene Fortsetzung vieler Maßnahmen der Fidesz-Regierung, welche Unmengen kosten werden, birgt bei Nichterfüllung die Gefahr von populistischen Schritten der Gegenseite.

Eine der wichtigsten Aufgaben der neuen Regierung wird also die Herstellung des gesellschaftlichen Friedens sein, der Brückenschlag zu vielen vom Fidesz irregeführten Bürgern, damit diese erkennen, dass nur der Fidesz und nicht die Zukunft aus der Spur geraten sind. Die MSZP muss nicht nur ihre Versprechen halten, sondern auch klare Verhältnisse schaffen hinsichtlich des Vorwurfes, sie sei eine Partei des Großkapitals. Ihr natürlicher Platz ist an der Seite der kleinen Leute, die, wenn sie sich verraten fühlen, leicht zum Opfer rechtsradikaler Parteien werden könnten. Und das ist mit Sicherheit nicht das Interesse des Großkapitals. (fp)