Musikalischer Vordenker: Pierre Boulez zum 100.
26. März 2025Rückblick: Bayreuth 2004. Christoph Schlingensief, "enfant terrible" der deutschen Bühne, inszenierte bei den Richard-Wagner-Festspielen die Oper "Parsifal". Das Schlüsselwerk für Wagner-Liebhaber kommt unerwartet skurril und provozierend daher. Ein Sturm der Empörung schlägt dem Regisseur entgegen, als er nach der Aufführung auf die Bühne kommt.
Schlingensief und sein Team stehen etwas verloren da auf der kahlen Festspielhaus-Bühne. Nur einer genießt sichtlich den Tornado der Wagnerianer-Entrüstung: Pierre Boulez, damals bereits 79. Der Dirigent und Komponist badet regelrecht in den Wellen der Buhrufe, die gar nicht ihm, dem Bayreuth-Liebling, gelten.
Das ist genau das, was Boulez an der Praxis des Schaffens liebt: Kunst, insbesondere die Musik, darf, muss überraschen, verwirren, auch verletzen - bloß nicht das Publikum einlullen, nicht zum Monument erstarren.
Für Boulez war Musik die "Architektur der Zukunft". "Sprengt die Opernhäuser in die Luft!", formulierte er es 1967 provokant in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel". Oder, etwas gemäßigter, 2003 in einem DW-Gespräch: "Wenn du jung bist, willst du die Welt verändern. Aber ich denke, ständiger Protest gegen das Establishment ist nicht befruchtend, und diese Sterilität mag ich nicht. Ich bin in die etablierten Institutionen gegangen, um dort innovativ zu sein", fuhr er fort. "Ich habe versucht, eine direkte Kommunikation zwischen Musik und dem Publikum unserer Zeit in Gang zu setzen."
Personifizierung des Zeitgenössischen
Als Komponist, Dirigent und Theoretiker, aber auch als Kulturpolitiker und Gründer und Leiter bekannter Ensembles war Pierre Boulez quasi die Personifizierung zeitgenössischer Neuer Musik, oder - wie es der französische Musikkritiker und Boulez-Kenner Christian Merlin formuliert - "eine Art Befehlshaber für Generationen von Musikliebhabern, Komponisten und Interpreten".
Bald zehn Jahre nach Boulez' Tod sei es "an der Zeit, auf diese zentrale und zugleich verpönte, bewunderte und gehasste Persönlichkeit zurückzublicken, um die sich ein halbes Jahrhundert lang das gesamte Musikmilieu aufgebaut und zerrissen hat", meint Merlin. Dieser Aufgabe stellt er sich unter anderem in einem Podcast von Radio France Musique zum 100. Boulez-Jubiläum. Die Macher unterteilen ihre Boulez-Saga in Folgen wie "Komponist", "Dirigent", "Chef der Institutionen" und "Der Kommandeur". Sie spiegeln nicht nur seine Lebensetappen, sondern auch seine Lebensaufgaben wider.
Ein Kind seiner Zeit
Pierre Louis Joseph Boulez, geboren am 26. März 1925 in Montbrison, einem malerischen Städtchen im französischen Département de la Loire unweit von Lyon, entstammte einer gutbetuchten bürgerlichen Familie und einer Dynastie von Ingenieuren.
In Vorbereitung auf eine vorbestimmte Laufbahn in der Industrie besuchte Pierre die örtliche Jesuitenschule. Das bedeutete vor allem Disziplin und Befolgung strenger Regeln. Der Junge zeigte eine überdurchschnittliche Begabung für Mathematik und analytisches Denken. Seine Passion aber galt der Musik.
Zunächst studierte Boulez Mathematik in Lyon, brach dann aber ab, um sich 1946 am Pariser Konservatorium in der Kompositionsklasse einzuschreiben.
Aus den Pariser Jahren stammt eine der schönsten Beschreibungen des jungen Boulez. Der Schauspieler Jean-Louis Barrault, in dessen Theater der junge Musiker Boulez jobbte, um seine Miete zu bezahlen, beschrieb den damals 20-Jährigen so: "Äußerlich charmant wie ein junges Kätzchen, war er nicht in der Lage, sein wildes Temperament zu verbergen, was sehr amüsant war … Doch wir fühlten, dass sich hinter seiner anarchischen Wildheit die hochgradige Feinheit verbarg, eine außergewöhnliche Sensibilität, sogar eine verborgene Sentimentalität."
In Paris waren Größen wie René Leibowitz und Olivier Messiaen seine Lehrer, die die Ideen von Arnold Schönberg, dem Erfinder der Zwöftontechnik, und Anton Webern weiterentwickelten. Aber auch diese Zwänge waren Boulez bald zu eng: Er suchte einen radikalen Neuanfang und fand ihn im Nachbarland, wo eine junge Generation auf den Trümmern des Alten am Start war: in Deutschland. Der Zweite Weltkrieg in Europa war gerade zu Ende gegangen. Man wollte sich von der Vergangenheit lösen und suchte dringend nach Erneuerung.
Deutschland, die neue musikalische Heimat
1952 war ein Schicksalsjahr: Mit 27 Jahren wurde Boulez Dozent bei den Darmstädter Ferienkursen, dem Labor für der Musikrevolution im Nachkriegsdeutschland. 1955 gelang ihm der Durchbruch als Komponist mit seinem Zyklus "Le marteau Sans maître".
In Deutschland fand Boulez nicht nur Mitstreiter, sondern beinahe ideale Bedingungen für seine Arbeit. Baden-Baden wurde seine Wahlheimat.
Mit der noch sehr konservativen französischen Kulturpolitik überwarf er sich indes bereits in den frühen 1960er-Jahren. Die Pariser Oper nannte er schon mal ein "Ghetto voller Dreck und Staub". Nachdem der damalige Kulturminister André Malraux seinen Reformvorschlägen eine Absage erteilt hatte, ließ Boulez für mehrere Jahre sämtliche Aufführungen seiner Werke in seiner Heimat verbieten.
Die Versöhnung erfolgte erst Ende der 1970er und war gekoppelt an die Gründung und Finanzierung von Institutionen wie "Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique" (IRCAM) in Paris, das bis heute eines der wichtigsten Zentren der Neuen Musik in Europa bleibt.
Mit Boulez' wachsendem kulturpolitischen Einfluss wuchs auch der Unmut in der Musikszene über ihn. Komponisten, dessen Wirken nicht seinen Vorstellungen entsprach, hatten es nicht einfach. "Er mochte eine bestimmte Art von Musik", sagt der renommierte britische Dirigent Jonathan Nott, der mehrere Jahre lang das von Boulez gegründete "Ensemble intercontemporain" leitete, im DW-Gespräch. Boulez wusste um seinen Einfluss: "Mein Urteil kann töten", gab Boulez in einem Interview zu.
Dirigent aus Not?
In zahlreichen Gesprächen, aber auch in seinem Buch "Leitlinien. Gedankengänge eines Komponisten" sprach Pierre Boulez davon, dass er sich vor allem als ein Komponist sah. Er habe nur deswegen angefangen zu dirigieren, weil zahlreiche etablierte Maestri sich weigerten, Neue Musik aufzuführen. "Ich musste Dirigent werden, damit meine eigenen Kompositionen aufgeführt wurden", so Boulez 2006 gegenüber dem "Spiegel". Als Autodidakt entwickelte er sich zu einem der wichtigsten Dirigenten seiner Zeit - bei weitem nicht nur seiner eigenen Musik.
Orchester vom Weltrang rissen sich um ihn, und die nächste Dirigenten-Generation wurde von seiner reduzierten Art, seinem Verzicht auf große dramatische Gesten geprägt. Simon Rattle bezeichnete ihn als seinen Lehrer, für Daniel Barenboim bleibt Pierre Boulez "ein echter Mann der Zukunft". Er hat "seinen" neuen Konzertsaal in Berlin nach seinem Idol Pierre Boulez Saalgenannt.
Boulez: Was bleibt?
"Ich glaube, die Welt verändert hat Pierre Boulez stärker als Denker und Gründer von Institutionen denn als Komponist", sagt Patrick Hahn, Musikmanager und Publizist, im DW-Gespräch über den 2016 verstorbenen Musiker. "Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass sein Œuvre, was er geschaffen hat, am Ende relativ klein geblieben ist."
Besonders großbesetzte, ohne jede Rücksicht aufs Praktische geschriebene Werke von Boulez (wie "Pli selon Pli" (1957-1990), gerade in Köln vom WDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Jonathan Nott zum 100. des Komponisten gespielt) werden sonst kaum aufgeführt. Dennoch empfiehlt Hahn jedem Musikliebhaber unbedingt, Boulez zu hören - im Idealfall im Konzertsaal: es sei Musik "voller surrealer Phantasie, voller Esprit und voller Suche nach neuen Welten".
Als "ungeheuer schön und fantasievoll" empfindet auch der Dirigent Jonathan Nott die Musik von Pierre Boulez. "Ich spüre in ihr das, was mir auch an dem Menschen Boulez immer imponiert hat: sein einfacher Wille, die Stärke dieser Person. Und, wenn man sich dieser Musik öffnet, empfindet man auch eine ganz große Menschlichkeit."