Murren in Brüssel über Prodi
31. Oktober 2001So richtig war es niemandem aufgefallen: Bei der späten Abschluss-Pressekonferenz des EU-Sondergipfels in Gent fehlte Kommissionspräsident Romano Prodi. Zu einer Geschichte wurde der leere Stuhl an der Seite des amtierenden Ratsvorsitzenden und belgischen Premiers Verhofstadt erst, als zwei Tage später der Sprecher der Kommission darauf angesprochen wurde. Jonathan Faull erklärte daraufhin nämlich leicht ungehalten, Prodi habe mit der Tradition gebrochen, weil die Reden Verhofstadts so lang seien, dass er selbst kaum mehr zu Wort käme. Prodi sei deshalb vorzeitig nach Hause gefahren.
Die Kritik Prodis an Verhofstadt löste in Brüssel Heiterkeit aus. Zwar neigt der belgische Premier dazu, seine Ausführungen sowohl in Flämisch als auch in Französisch dazulegen, und machmal wechselt er auch noch ins Englische. Doch das ergibt sich aus der Eigenheit des belgischen Staates, der seinen Volksgruppen gerecht werden muss. Ein Grund zu einem solchen - dazu noch kindischen und trotzigen - Affront ist es nicht.
Prodis gerät selbst in die Kritik
Und so mündete die Kritik an Verhofstadt schnell in eine Kritik an Romano Prodi selbst, dem es in den zwei Jahren, die er das Amt an der Spitze der wichtigen EU-Institution innehat, Zug um Zug gelungen ist, seinen Ruf zu ruinieren. Heute gilt Prodi als führungsschwacher Chef der Brüsseler Kommission, bar jeder Visionen. Er ist das Gegenteil von einem Kommunikator. Und das auch, weil seine Nuscheleien schon in seiner Muttersprache schwer zu verstehen sind - in Englisch oder Französisch jedoch nur noch Rätselraten bei den Zuhörern auslösen und sich jeder fragt: Was will er uns jetzt sagen? Dazu kommt, dass sich Prodi in erster Linie mit italienischen Beratern umgibt und sozusagen autistisch im engsten Kreise vor sich hinwurschtelt.
Allerdings: seine Schwäche macht Prodi auch zum Opfer. Denn die großen EU-Staaten, denen - trotz anders lautender Beteuerungen - nichts an einer starken Kommission liegt, nutzen die mangelnde Autorität des Kommissionspräsidenten, um ihn weiter zu demontieren. In guter Erinnerung ist hier noch Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac, der beim EU-Gipfel in Nizza Prodi undiplomatisch und ruppig den Mund verbot. Natürlich passiert nicht alle Kritik so offen, wie sich dies der selbstbewusste Chirac herausnahm. Der Unmut äußert sich eher leise auf den Fluren der EU-Institutionen oder bestenfalls in Hintergrundgesprächen. Das Schlimme aber daran ist: alle halten Prodi inzwischen für einen hoffnungslosen Fall.
Ruiniertes Image trotz guter Haushaltsführung
Doch auch wenn die Gerüchte über einen Sturz des Kommissionspräsidenten nach den Ereignissen in Gent jetzt wieder aufflackern - und sogar schon ein potentieller Nachfolger genannt wird -, so glaubt doch niemand in Brüssel richtig daran, dass Prodi vorzeitig gehen wird. Nicht einmal das Parlament wird sich dafür einsetzen. Denn: anders als die Vorgänger-Kommission unter Jaques Santer können der amtierenden Kommission keine Verfehlungen im Haushalt nachgewiesen werden. Im Gegenteil: die Prodi-Truppe gilt als extrem sparfähig, im letzten Jahr flossen Überschüsse in Höhe von fast 8 Milliarden Euro an die Mitgliedsstaaten zurück; auch in diesem Jahr wird mit einem Plus im Haushalt gerechnet.
Das Image Prodis ist trotzdem runiert. Auch die große Chance seiner Amtszeit, die Europäische Union weltpolitisch zu vertreten, nutzte Prodi nach dem 11. September nicht. Er tauchte stattdessen unter, überließ das Agieren den Nationalstaaten und zeigte nicht die geringste Eigenständigkeit.
Belgische Ratspräsidentschaft kein Glanzlicht
Das hat sicherlich auch etwas mit den selbst gesetzten Schwerpunkten der belgischen EU-Ratspräsidentschaft zu tun, die nicht gerade als Glanzlicht in die EU-Geschichte eingehen wird. Denn die Belgier nerven Kommission und Räte mit ihren Lieblingsthemen wie den Großen Seen in Afrika - ohne Rücksicht auf die weltpolitisch angespannte Situation.
Summa summarum bedeutet dies für die Europäische Union: in einer der größten Krise der internationalen Politik zeigt Europa nicht ein eigenständiges Gesicht, sondern es herrscht das Eigeninteresse und das Chaos der Nationalstaaten.