Mitscherlich: "Das Wichtigste ist Bildung"
6. Februar 2014Deutsche Welle: Frau Mitscherlich, Sie halten sich seit mehreren Monaten in Jordanien auf. Dort leben derzeit rund 600.00 syrische Flüchtlinge. CARE unterstützt diese Menschen, viele nehmen ihr Leben aber offenbar auch selbst in die Hand. Wie geschieht das?
Johanna Mitscherlich: Die meisten Flüchtlinge hier in Jordanien wie auch im Libanon leben nicht in Lagern. Vielmehr sind sie im städtischen Raum untergekommen - etwa in leerstehenden Garagen, alten Fabrikgebäuden oder heruntergekommenen Wohnungen. Es gibt auch Flüchtlingslager, das bekannteste ist das Zaatari Camp. Viele Menschen haben es aber inzwischen verlassen, weil sie versuchen wollen, ein halbwegs normales Leben zu führen: Ihre Kinder sollen in eine normale Schule gehen können, die Eltern suchen Arbeit - und dazu eine normale Nachbarschaft.
Die Flüchtlinge richten sich offenbar auf einen längeren Aufenthalt ein?
Viele gehen davon aus, dass sie noch länger in Jordanien oder im Libanon bleiben werden. Viele Menschen organisieren sich darum selbst: So habe ich mehrere ehemalige Lehrer kennengelernt, die in Syrien Englisch unterrichtet haben. Jetzt unterrichten sie Flüchtlingskinder, die aus verschiedenen Gründen nicht zur Schule gehen können: weil die Schule zum Beispiel zu weit entfernt ist, weil die Kinder mitten im Schuljahr angekommen sind - oder weil die Schulen einfach voll sind und keine weiteren Schüler mehr annehmen können.
Im Vordergrund Ihrer Arbeit stehen kurzfristige Projekte, solche, die die unmittelbare Not der Menschen lindern. Verfolgen Sie auch langfristige Strategien, die die Flüchtlinge dabei unterstützt, irgendwann wieder in ein normales Leben zurückzufinden?
Flüchtling zu sein heißt nicht nur, großer materieller Not ausgesetzt zu sein. Es heißt auch, dass man etwa als Student nicht mehr studieren kann; oder dass Menschen ihren Beruf nicht mehr ausüben können. Viele derer, die geflohen sind, gehörten vorher zur Mittelschicht. Das heißt, sie hatten eine Arbeit, kamen gut über die Runden, verdienten ihr eigenes Brot. Das alles verloren zu haben, ist für viele Flüchtlinge sehr schwer. Um zumindest einigen wieder Halt zu geben, haben wir einige von ihnen in unseren Betreuungszentren als freiwillige Mitarbeiter engagiert. Unter ihnen finden sich Angehöriger ganz unterschiedlicher Berufsgruppen. Es handelt sich um junge, sehr qualifizierte Menschen, die sagen, dass ihr Leben im Prinzip in eine Art Pausenzustand gefallen ist. Sie sprechen auch davon, dass sie ihren Kopf nicht mehr so nutzen können wie vorher – weil sie eben nicht mehr in ihrem Beruf tätig sein können. So ist die freiwillige Mitarbeit für uns ein Weg, die Syrer auf sinnvolle Weise zu beschäftigen, bei der sie auch noch etwas lernen können.
CARE ist in vielen Weltregionen engagiert. Was sind Ihrer Erfahrung nach die wichtigsten langfristigen Schritte, Flüchtlingen wieder zu einem normalen Leben zu verhelfen?
Das Wichtigste - diese Erfahrung haben wir auch in anderen Ländern gemacht – ist Bildung. Das heißt, die Menschen so zu befähigen, dass sie nach ihrer Rückkehr ihr Land wieder aufbauen können. Und nahezu alle Flüchtlinge, mit denen ich gesprochen habe, haben diesen Wunsch: nach Hause zurückzukehren. Darum kommt es darauf an, sie so zu unterstützen, dass sie das auch tun können. Natürlich muss man hoffen, dass sie während der drei, vier oder fünf Jahren der Flucht ihre beruflichen Fähigkeiten nicht verlernt haben, weil sie ihren Beruf schlicht nicht mehr ausgeführt haben. Wir haben in den großen Flüchtlingslager Dadaab im Norden Kenias viel mit somalischen und südsudanesischen Flüchtlingen zusammengearbeitet. Einer der wichtigsten Punkte war, dafür zu sorgen, dass die Kinder zur Schule gehen konnten. Außerdem kam es uns darauf an, junge Erwachsene in verschiedene Berufe einzuführen, damit sie Fähigkeiten erwerben, die sie dann wieder in ihre jeweiligen Länder einbringen können. Das scheint mir auch für die syrischen Flüchtlinge langfristig am wichtigsten: dafür zu sorgen, dass die Kinder in die Schule gehen können.
Gerade das ist leider nicht selbstverständlich.
Leider nicht, denn viele Kinder können nicht lernen, weil sie zum Lebensunterhalt ihrer Familien beitragen müssen. Hier in Jordanien gilt das für 30 bis 40 Prozent der Kinder, im Libanon ist der Satz noch höher. Es wird nicht umsonst über eine verlorene Generation gesprochen. Das Wichtigste ist darum, dass die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ihre Zeit nutzen, um sich weiterzubilden sowie das, was sie vorher gelernt haben, nicht zu vergessen. Die syrische Gemeinschaft ist in dieser Hinsicht sehr stark. Nahezu alle wollen irgendwann nach Hause zurück. Darauf bereiten sie sich auch vor. Aber angesichts des Umstandes, dass dieses Krise vermutlich noch sehr lange dauern wird, wird noch sehr viel Unterstützung nötig sein.
Johanna Mitscherlich arbeitet als Medienkoordinatorin für die CARE-Nothilfe für syrische Flüchtlinge.