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KriminalitätFrankreich

Missbrauchs-Prozess in Frankreich: Hoffen auf ein Umdenken

Lisa Louis
9. März 2025

Ein Chirurg in Frankreich hat mutmaßlich hunderte minderjährige Opfer sexuell missbraucht. Experten beklagen ein fehlendes gesellschaftliches Bewusstsein und schwache Gesetze.

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Ein Polizist vor den geschlossenen Türen eines Gerichtssaals
Bereits 2020 wurde der Chirurg verurteilt - ein Nachbarsmädchen hatte ihn ins Visier der Justiz gebrachtBild: Georges Gobet/AFP

Er könnte als der schlimmste Pädokriminelle in Frankreichs Geschichte eingehen: Einem nun 74-jährigen Chirurgen wirft man vor, über Jahrzehnte hinweg in Krankenhäusern Westfrankreichs rund 300 Patientinnen und Patienten sexuell genötigt und vergewaltigt zu haben, die meisten davon minderjährig. An diesem Montag beginnen die Anhörungen von rund 200 mutmaßlichen Opfern - damals zwischen 18 Monate und 70 Jahre alt - im Krankenhaus von Vannes an der bretonischen Küste. Viele Menschen hoffen, dass der viermonatige Prozess zu einem Aufschrei führen wird.

Ab etwa 1990 beschrieb der Chirurg seine Taten in einem Tagebuch. Entdeckt haben Ermittler diese Aufzeichnungen erst 2017 während einer Untersuchung. Damals hatte eine Sechsjährige ihren Eltern erzählt, der Chirurg, ein Nachbar, habe ihr schlimme Dinge angetan. Die Eltern erhoben Klage. Ende 2020 verurteilte ein Gericht den Arzt zu 15 Jahren Gefängnis für die Vergewaltigung und sexuelle Nötigung des Nachbarmädchens, sowie einer Patientin und zweier Nichten - alle von ihnen minderjährig. Die Ermittler eröffneten zudem ein weiteres Verfahren in mehr als 300 anderen Fällen, das im aktuellen Prozess mündete. Viele der Patientinnen und Patienten standen unter Betäubung und erfuhren erst durch die Ermittlungen, dass sie womöglich vergewaltigt worden waren.

Sollte Frankreich seine Gesetze ändern?

Doch für Homayra Sellier, Präsidentin des Kinderschutzvereins "Innocence en Danger" ("Unschuld in Gefahr"), wirft vor allem ein erster Urteilsspruch von 2005 Fragen auf. Damals hatte man den Chirurgen zu vier Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt, weil er auf Kinderpornographie im Internet zugegriffen hatte. "Wieso hat die Ärztekammer ihm nicht sofort die Zulassung entzogen? Das Angucken von Kinderpornographie ist oft der erste Schritt zur Tat", sagt sie gegenüber der DW.

Die Ärztekammer lehnte eine Interviewanfrage der DW ab, teilte jedoch schriftlich mit, 2008 von dieser Verurteilung erfahren zu haben, woraufhin die Kontrollmechanismen nun verschärft seien. Erst 2021 entzog man dem Arzt die Approbation.

Eine Gruppe mit Transparenten und Schildern steht auf einer Treppe.
Demonstration für besseren Opferschutz vor dem GerichtsgebäudeBild: Thomas Padilla/AP Photo/picture alliance

Sellier hofft, dass die Gerichtsverhandlung auch in anderer Hinsicht zu einem Umdenken führen wird: "Dutzende Opfer wurden nicht als Zivilkläger anerkannt, weil die Taten nach mehr als 30 Jahren verjährt waren", sagt sie. "Man sollte die Verjährungsfrist für Sexualvergehen an Minderjährigen aufheben." Selliers Verein ist Zivilkläger und vertritt 37 mutmaßliche Opfer in dem Prozess.

Magali Lafourcade ist ehemalige Richterin und Generalsekretärin der Nationalen Beratungskommission für Menschenrechte CNCDH, die Frankreichs Regierung in Sachen Kinderschutz berät. Sie glaubt ebenfalls, dass der gesetzliche Opferschutz verbessert werden sollte. "Es gibt zwar seit 2021 die sogenannte 'Romeo-und-Julia-Klausel': Wenn Personen jünger als 15 Jahre sind, gelten sie als nicht mündig, Sex zuzustimmen, wenn die andere Person mehr als fünf Jahre älter ist", erklärt sie gegenüber DW. In allen anderen Fällen muss dass Opfer darlegen, dass es unter Gewalt, Bedrohung oder Zwang stand oder überrascht wurde, um Vergewaltigung geltend zu machen. "Diese Definition sollten wir breiter fassen - auch, um Dinge wie Machtbeziehungen miteinzubeziehen, zum Beispiel zwischen einem Arzt und seinen Patienten", sagt Lafourcade.

Sie hofft, der aktuelle Prozess werde auch in anderer Hinsicht zu einem Bewusstseinswandel führen. "Wir dürfen nicht zögern, Menschen anzuzeigen, wenn wir von Übergriffen erfahren. In diesem Fall hätte das die Zahl der vermeintlichen Opfern verringern können", sagt Lafourcade. Laut Medienberichten wussten auch Familienmitglieder früh von der Pädophilie des Mannes. Lafourcade fordert daher offene Informationskampagnen gegen Inzest und Kindesmissbrauch. "Wir müssen früh mit Kindern über sexuelle Übergriffe sprechen, um sie zu wappnen", sagt sie.

Mehr Prävention in Schulen geplant

Genau dies sei ab September in Schulen geplant, sagt Philippe Fait, ehemaliger Sonderschullehrer und Abgeordneter der Regierungspartei "Ensemble pour la République" ("Zusammen für die Republik"). "Wir werden allen Kindern beibringen, dass ihr Körper ihnen gehört", sagt er gegenüber DW. "Außerdem sollten wir das Personal für den Kontakt mit Kindern besser überprüfen, bevor wir jemanden anstellen."

Porträt von Mai Lan Chapiron
Die Kinderbuchautorin und Sängerin Mai Lan ChapironBild: Marilou Chabert

Seit dem Jahr 2001 sind drei Unterrichtsstunden Sexualkunde pro Jahr in allen Schulen Pflicht. Doch Mai Lan Chapiron geht das nicht weit genug - auch, weil nicht alle Schulen diese Regel umsetzen. Die Sängerin wurde mit sieben Jahren Opfer eines sexuellen Missbrauchs durch ihren Großvater. Sie hat mehrere Bücher, ein Lied und ein Video verfasst, um Kinder gegenüber sexuellen Übergriffen zu stärken. Ihr Buch "Le Loup" ("Der Wolf") ist inzwischen für viele Lehrer und Psychologen zum Standardwerk geworden. "Seit zwei Jahren gehe ich in Schulen und Feriencamps, um Kindern davon zu erzählen", sagt sie zu DW. "Wir dürfen sie mit solchen Vorfällen nicht alleine lassen."

Zwei Hände werfen einen Zettel in einen Kasten
"Schmetterlingsbox" des Hilfsvereins "Les Papillons"Bild: Les Papillons

Auch der Verein "Les Papillons" ("Die Schmetterlinge") bemüht sich um eine Unterstützung der Kinder. Er stellt seit 2020 sogenannte Schmetterlingsboxen in französischen Schulen und Sportklubs auf. Kinder können Nachrichten einwerfen, wenn sie oder andere Opfer von Mobbing, Gewalt oder sexuellen Übergriffen geworden sind. 450 solcher Kästen gibt es bereits in Frankreich und eine erste Box in einer Münchner Schule in Süddeutschland. Der Verein hat schon Zehntausende Nachrichten erhalten. "Als ich zwischen sechs und neun Jahre alt war, hat mein Bruder mich vergewaltigt", sagt der inzwischen 53-jährige Laurent Boyet, Gründer des Vereins, zur DW. "Ich schaffte es nicht, darüber zu reden, aber aufschreiben ging. Diese Möglichkeit möchte ich anderen Kindern geben." Auch in Krankenhäusern könnte man die Boxen aufstellen - selbst wenn das im Fall des Chirurgen nicht viel geändert hätte. Viele mutmaßliche Opfer standen zur Tatzeit unter Betäubung.