"Mein Herz weint um Gaza": Bewohner bangen um ihre Stadt
7. September 2025Fadel al Otol verfolgt rund um die Uhr die Nachrichten aus seiner Heimatstadt Gaza. "Mein Herz weint um Gaza. Ich weiß nicht, welches Schicksal es erwartet", sagt der renommierte Archäologe am Telefon. Er konnte Gaza-Stadt vor wenigen Monaten verlassen und lebt nun in Genf, verfolgt aber wie viele andere Geflohene aufmerksam die Nachrichten aus seiner Heimat. Otol macht sich große Sorgen um seine Tochter und ihre Familie, sowie um die vielen anderen, die zurückgeblieben sind. Und er macht sich Sorgen um die vielen antiken Stätten, die er in den letzten Jahrzehnten zu erhalten versucht hat. Denn die israelischen Militärangriffe auf den Gazastreifen gehen weiter.
"Gaza ist ein Kulturland und eine Wiege der Zivilisation", sagt der Archäologe. Dabei gehe es ihm nicht nur um die Zerstörung von Altertümern. Otol befürchtet, dass ganze Stadtteile mit ihrer lebendigen Geschichte zerstört werden, wie das alte Viertel Zaytoun in Gaza-Stadt mit der historischen Al-Omari-Moschee und den zwei Kirchen.
Die größte Stadt des Gazastreifens ist eine der ältesten Städte der Welt und blickt auf eine lange Geschichte von Eroberungen und Besatzungen zurück. In Gaza befürchten viele, dass die Invasion Israels diese einst geschäftige Mittelmeer-Metropole zerstören und ihre aktuelle Bevölkerung für immer gewaltsam vertreiben könnte.
Große Teile des Gazastreifens sind bereits als "rote Zonen" ausgewiesen, aus denen die Palästinenser auf Befehl des israelischen Militärs evakuiert werden müssen. Laut Angaben der Vereinten Nationen sind mehr als 80 Prozent des Palästinensischen Gebiets für Palästinenser nicht mehr zugänglich.
Israel will damit nach offiziellen Angaben den Druck auf die Hamas weiter erhöhen. Die militant-islamistische Organisation, die von vielen Ländern als Terrorvereinigung eingestuft wird, hatte den Terroranschlag auf Israel am 7. Oktober 2023 angeführt, und damit den Krieg ausgelöst. Nun nimmt das israelische Militär auch die letzten verbliebenen Hochhäuser der Stadt ins Visier.
"Es ist das Schlimmste, was Gaza je erlebt hat"
In Gaza-Stadt beobachtet Amjad Shawa, der Leiter des palästinensischen NGO-Netzwerks PNGO, täglich die Lage. "Die Menschen stehen vor unmöglichen Entscheidungen: Wohin sollen sie gehen und wann?", sagt er am Telefon, während im Hintergrund eine laute Explosion zu hören ist.
Shawa und seine Familie wurden zu Beginn des Krieges im Oktober 2023, als Israel seine ersten Evakuierungsbefehle erließ, in den Süden vertrieben. Erst während der kurzen Waffenruhe im Januar 2025 konnten sie zurückkehren. "Es ist eine beängstigende Zeit. Ich glaube, das ist das Schlimmste, was Gaza je erlebt hat. Eine elendige Situation", sagte er. Die israelischen Angriffe kämen momentan aus allen Richtungen.
In den letzten Tagen hat das israelische Militär die Angriffe intensiviert. Offenbar sollen so die geschätzt eine Million Einwohner aus der Gaza-Stadt vertrieben werden, bevor Bodentruppen weiter vordringen. Schon jetzt seien rund 40 Prozent der Stadt unter Kontrolle der israelischen Armee, sagte ein israelischer Militärsprecher am Donnerstag.
Diese Woche forderte das israelische Militär die Bewohner nochmals dazu auf, sich in das Gebiet Mawasi in der Nähe von Khan Yunis im südlichen Gazastreifen zu begeben. Israel behauptet, es sei dort sicherer, obwohl auch diese Gegend in der Vergangenheit wiederholt bombardiert wurde.
Hungersnot im nördlichen Gazastreifen ausgerufen
Nach Angaben des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums im Gazastreifen wurden im aktuellen Gazakrieg mindestens 63.500 Palästinenser getötet, viele Tausende sollen unter Trümmern begraben sein.
Immer mehr Menschenrechtsgruppen und Experten sagen, Israel begehe in Gaza einen Völkermord. Eine formelle Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) kann noch Jahre auf sich warten lassen. Dennoch erklärte das Gericht im Jahr 2024, der Vorwurf, Israel habe in Gaza gegen die Genfer Konventionen zum Völkermord verstoßen, sei "plausibel". Seither hat sich die Lage der Überlebenden weiter verschlechtert.
Hilfsarbeiter wie Shawa sagen, es sei fast unmöglich geworden, Hilfe zu leisten: "Wir haben nur sehr begrenzte Möglichkeiten zu helfen, da vor allem nationale (also lokale, d.R.) NGOs vor Ort tätig sind." Gerade einmal die Suppenküchen funktionierten noch.
Der von den Vereinten Nationen unterstützte globale Hunger-Monitor IPC erklärte Ende August, dass im nördlichen Gazastreifen - also dem Verwaltungsbezirk, in dem Gaza-Stadt liegt - wegen der israelischen Blockade und der anhaltenden Beschränkungen bei der Verteilung von Hilfsgütern eine "vollständig vom Menschen verursachte" Hungersnot herrsche.
Deshalb wird auch eine Evakuierung zu Fuß schwierig, weil insbesondere Kinder, ältere Menschen oder Menschen mit besonderen Bedürfnissen aufgrund von Erschöpfung und Unterernährung gar nicht mehr in der Lage dazu sind.
Kein Ort ist sicher in Gaza
Fast die gesamte Bevölkerung Gazas wurde in den vergangenen zwei Jahren vertrieben, viele sogar mehrfach. "Was Unterkünfte und solche Dinge angeht, können wir den Menschen leider nichts bieten", sagte Shawa. "Tausende Familien leben einfach auf der Straße, ohne Zelte."
Sham Mahmoud, die derzeit mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in einem Viertel im Norden von Gaza-Stadt lebt, beschreibt der DW am Telefon ihre Situation: "Es gibt keine guten Optionen. Wir hören rund um die Uhr Explosionen, sei es in Jabalia, in den östlichen Gebieten oder in Gaza-Stadt selbst." Mahmouds Familie sei im ersten Kriegsjahr in den Süden vertrieben worden, wo sie die meiste Zeit in einem Zelt leben musste. Nun sei sie sich nicht sicher, ob sie in den Westen von Gaza-Stadt oder zurück in den Süden fliehen werden.
Ob Transport oder Miete - die meisten Menschen haben kein Einkommen und keine Rücklagen mehr, um dafür zu bezahlen. Auch Sham Mahmoud nicht: "Eine Unterkunft im Süden zu mieten, wäre unmöglich, weil alles sehr teuer geworden ist." Ihr Mann könne nicht einmal die Miete für ein Einzelzimmer berappen. Der Preis dafür liege aktuell bei mindestens 1000 israelischen Schekeln (rund 255 Euro) pro Monat, sagt die Frau.
Ihrer Familie gingen die Optionen aus: "Meine Kinder leben in Angst, besonders nachts, wegen der Explosionen. Aber die Bombardierungen finden überall statt, auch im Süden", berichtet die 30-Jährige. "Ich will sie dieser Lebensgefahr nicht aussetzen."
In den letzten Wochen sind viele Menschen aus den nördlichen Gebieten in den westlichen Teil der Stadt geflohen. Dort haben sie ihre Zelte aufgeschlagen oder provisorische Unterkünfte gebaut. Vor dem Krieg gab es in diesem Viertel an der Mittelmeerküste des Gazastreifens eine Reihe von Hotels und Restaurants. Die nahe gelegene Küstenstraße und der Strand waren beliebte Treffpunkte am Abend. Sie boten etwas Ablenkung von den Härten der fast zwei Jahrzehnte währenden autoritären Hamas-Regierung und der strengen Abriegelung des Gazastreifens durch Israel.
Doch auch das ist vorbei: Die strenge Kontrolle der Küste des Gazastreifens durch die israelische Marine ist im Juli einer vollständigen Sperrung des Meeres gewichen. Der Strand steht voller Zelte mit geflüchteten Stadtbewohnern. Schwimmen ist verboten.
Hoffnungslosigkeit erfüllt Gaza-Stadt
Was mit denjenigen geschehen wird, die sich weigern oder es nicht schaffen, die Stadt zu verlassen, ist unklar. Einige israelische Medienberichte deuten darauf hin, dass sie als Kämpfer angesehen und somit zu Zielscheiben werden könnten. Nach fast zwei Jahren Krieg hat sich ein allgemeines Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Erschöpfung breitgemacht.
"Ich werde so lange wie möglich hier in Gaza-Stadt bleiben, ich möchte nicht wieder in einem Zelt leben. Die Bombardierungen sind ohnehin überall, es gibt keinen großen Unterschied, nirgends ist es sicher", erzählt Ezzedine Mohammed der DW ebenfalls am Telefon aus Gaza-Stadt. Auch er wurde mit seiner Familie zu Beginn des Krieges gewaltsam in den Süden des Gazastreifens vertrieben. Im Januar kehrten sie in den Norden zurück. "Das Leben ist in jeder Hinsicht nur noch furchtbar. Jeden Tag gibt es Tote. Jeden Tag herrscht Todesangst. Und die Zerstörung von Häusern geht weiter", sagt der 41-Jährige.
Helfer Amjad Shawa sieht es ähnlich: "Gaza ist bereits zu einem Friedhof für unsere Liebsten, unsere Erinnerungen und unsere Träume geworden. Ich persönlich werde niemals aufgeben. Gaza ist für mich Gaza", sagte er. "Aber wie wird es für die nächste Generation sein? Diese Kinder haben so viele Dinge durchgemacht, die sie niemals hätten erleben dürfen."
Für den Archäologen Fadel al Otol steht außer Frage, dass er in seine Heimat zurückkehren möchte. Aber er weiß, dass nichts mehr so sein wird wie zuvor. "Gaza wird eine traurige Stadt sein, selbst wenn sie wieder aufgebaut wird", sagt al Otol. "Steine können wieder aufgerichtet werden. Aber der Aufbau einer Zivilisation dauert viele Jahre."