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Mehr Einwohner im Osten Deutschlands durch Wohnen auf Probe?

Helen Whittle
26. Juni 2025

In Ostdeutschland schrumpfen viele Städte und Gemeinden. Projekte zum günstigen Probewohnen sollen Menschen wieder in die Region locken.

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Deutschland Guben 2021 | Luftaufnahme der deutsch-polnischen Grenzstadt
Guben will für jüngere Menschen wieder attraktiver werdenBild: Patrick Pleul/dpa/picture alliance

"Es gibt keine Probleme, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Es gibt keine Staus und keine Rush hour. Und ich hatte noch nie Probleme, einen Parkplatz zu finden", sagt Anika Franze strahlend hinter ihrem Schreibtisch im Zentrum der kleinen Stadt Guben an der östlichen Grenze Deutschlands zu Polen.

Die 38-Jährige wurde in Ost-Berlin in der damaligen Deutschen Demokratischen Republik geboren und hat den größten Teil ihres Lebens vor und nach dem Fall der Berliner Mauer im selben Bezirk von Berlin gelebt. Doch wegen der Hektik und der katastrophalen Wohnsituation in der Hauptstadt spielte sie schon länger mit dem Gedanken, wegzuziehen.

Auf einer Fahrt durch Brandenburg hörte sie im Radio von einem "Probewohnen"-Programm in Guben. Interessierte haben dort die Möglichkeit, bis zu einen Monat lang für nur 100 Euro Miete pro Woche zu wohnen. Die Idee dahinter: Menschen dazu zu bewegen, sich in der Stadt niederzulassen und so dem zunehmenden Bevölkerungsschwund in Ostdeutschland zu trotzen.

Bewerbungen sogar aus Algerien, Ägypten und Brasilien

Franze lebt seit acht Monaten in Guben - und leitet jetzt das Projekt, das sie in die Stadt gebracht hat. Sie wohnt in einer 100 Quadratmeter großen, zweigeschossigen Wohnung zur Miete. Für den gleichen Preis, den sie für ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft in Berlin zahlen müsste.

Frau steht auf einer Treppe vor einem Gebäude mit Glastüren
Anika Franze in ihrer neuen Heimat in Guben, BrandenburgBild: Helen Whittle/DW

"Hier ist es immer ruhig, es gibt keine Lärmbelästigung, weniger Müll auf den Straßen, und man trifft immer Leute, die man kennt", erklärt sie auf einer kurzen Tour durch die Stadt. Letztes Jahr haben 30 Personen an dem Programm in Guben teilgenommen, von denen später sechs langfristig dorthin gezogen sind. Dieses Jahr landeten bereits 40 Bewerbungen auf Franzes Schreibtisch: aus ganz Deutschland, Belgien, und sogar aus Algerien, Ägypten und Brasilien.

Halbierung der Bevölkerung im Osten Deutschlands in 30 Jahren

Guben, vor der Wende berühmt für seine Textilindustrie und Hutmacherei, ist nur eine von Hunderten von Industriestädten in Ostdeutschland, die nach der deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1990 große demografische Veränderungen mitmachen mussten. Sinkende Geburtenraten, die Abwanderung vor allem junger Menschen in die westlichen Bundesländer und die steigende Lebenserwartung haben dort die demografische Alterung beschleunigt.

Blick in eine Wohnung mit Sofas und Tisch in der Mitte, im Hintergrund Zimmerfenster
Eine der Wohnungen auf Probe in GubenBild: Lars Wiedemann/GuWo

"Uns fehlt eine ganze Generation", sagt der Bürgermeister der Stadt, Fred Mahro, gegenüber der Berliner Zeitung "taz". Und tatsächlich: In Guben leben derzeit 16.600 Menschen, vor 30 Jahren waren es beinahe doppelt so viele. Schätzungen zufolge wird die Einwohnerzahl in den nächsten Jahren weiter sinken, genauso wie die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter, während das Durchschnittsalter, derzeit 58 Jahre, weiter steigen wird.

"Aus wirtschaftlicher Sicht müssen wir dafür sorgen, dass Standorte attraktiv bleiben, dass Anreize für die Ansiedlung von Unternehmen geschaffen werden, aber es geht um viel mehr, zum Beispiel um eine Willkommenskultur und ein soziales Miteinander", sagt Susanne Schultz, Expertin für Migrationspolitik bei der Bertelsmann-Stiftung, der DW.

Studie: Jeder vierte Zuwanderer will Deutschland wieder verlassen

Kein leichtes Unterfangen, denn jeder vierte Zugewanderte denkt laut einer aktuellen Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung darüber nach, Deutschland wieder den Rücken zu kehren. "Unzufriedenheit mit der Politik war einer der Hauptgründe, und ich denke, das hat viel mit den Entwicklungen der letzten anderthalb Jahre zu tun - die Stimmung in Deutschland hat sich wirklich geändert", so Schultz. 

Häufig fielen als Gründe für die Abwanderungsgedanken deswegen auch die Begriffe Diskriminierung und fehlende Willkommenskultur. Ein weiteres falsches Signal, so die Migrationsexpertin: Der jüngste Vorstoß der Bundesregierung, den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte für zunächst zwei Jahre auszusetzen.

Ostdeutschland hat Image als Region der Rechten

Im Kampf um neue Einwohner haben die ostdeutschen Bundesländer vor allem mit einem Imageproblem als Brutstätten des Rechtsextremismus zu kämpfen. Auch Guben geriet 1999 in die Schlagzeilen, als der algerische Asylbewerber Farid Guendoul verblutete, nachdem er von Neonazis gejagt worden war.

Bei der Bundestagswahl im Februar 2025 stimmten knapp 39 Prozent der Einwohner für die Alternative für Deutschland (AfD), die der Verfassungsschutz in Brandenburg vor kurzem als gesichert rechtsextremistisch eingestuft hatte.

"Die Menschen haben ihre Vorurteile und Klischees, aber meiner Erfahrung nach kann man immer noch eine Verbindung zu ihnen herstellen. Sie brauchen vielleicht nur ein bisschen Zeit, weil sie nicht an so viel Vielfalt gewöhnt sind", erklärt Anika Franze. Sie ist auch ein wenig frustriert über die Fokussierung auf die AfD, mehr als 60 Prozent der Menschen hätten schließlich für gemäßigte Parteien gestimmt.

Im Moment genießt Franze ein Leben, das irgendwie ein bisschen überschaubarer ist als in der deutschen Hauptstadt. Sie hat sich einen Kindheitstraum erfüllt: Reiten zu lernen. "Ich weiß nicht, ob ich hier alt werden will, aber ich weiß auch nicht, ob ich das in Berlin machen würde."