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PolitikFrankreich

Urteil gegen Le Pen setzt Frankreich unter Spannung

Andreas Noll
3. April 2025

Marine Le Pen wurde verurteilt - und soll sofort aus dem politischen Spiel genommen werden. Ein seltener Vorgang mit weitreichenden Folgen. Doch ob sie 2027 wirklich nicht für den Élysée kandidieren darf, ist noch offen.

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Frankreich Paris 2025 | Marine Le Pen in ihrem Büro in der Nationalversammlung
Marine Le Pen am 1. April 2025 in ihrem Büro in der NationalversammlungBild: Olivier Corsan/Le Parisien/IMAGO

Das Urteil des Pariser Strafgerichts am Montag (31.3.) hat in Frankreich eine politische Debatte ausgelöst, die weit über den konkreten Fall hinausgeht. Zwar wurde Marine Le Pen vom rechtsnationalen Rassemblement National (RN) wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder des EU-Parlaments zu vier Jahren Haft verurteilt - zwei davon mit elektronischer Fußfessel, zwei auf Bewährung -, doch im Zentrum der Diskussion steht eine andere Maßnahme: der sofortige Entzug des passiven Wahlrechts für fünf Jahre. Bleibt es dabei, könnte die derzeit in allen Umfragen deutlich führende Politikerin nicht an den im Frühjahr 2027 geplanten Präsidentenwahlen teilnehmen.

Wie groß war der Ermessensspielraum?

In seinem Urteil entschied das Pariser Strafgericht, das fünfjährige Verbot an einer Wahl teilzunehmen sofort - also noch vor Abschluss des Berufungsverfahrens - zu vollstrecken. Diese exécution provisoire ist rechtlich zulässig, aber nicht zwingend. Zwar sieht das Antikorruptionsgesetz Loi Sapin 2 eine automatische Unwählbarkeit bei Veruntreuung öffentlicher Gelder vor, doch das Gericht hat sich in seinem Urteil nicht auf dieses Gesetz bezogen. Le Pens Handlungen endeten spätestens am 15. Februar 2016 - das Gesetz trat aber erst im Dezember 2016 in Kraft. Die Aberkennung der Wählbarkeit war daher keine "zwingende Strafe".

Dass sie dennoch verhängt und vorläufig vollstreckt wurde, ist eine bewusste Entscheidung der Richter. Die vorsitzende Richterin verwies auf die Schwere der Tat (über vier Millionen Euro Schaden), den organisierten Charakter, die Wiederholungsgefahr und das öffentliche Interesse am Schutz der Ordnung. Ein anderes Gericht hätte bei gleicher Sachlage anders entscheiden können.

Noch während der Urteilsverkündung verlässt Marine Le Pen den Gerichtssaal
Noch während der Urteilsverkündung verließ Le Pen den GerichtssaalBild: Stéphane Geufroi/OUEST FRANCE/MAXPPP/IMAGO

Gab es in der Vergangenheit ähnliche Fälle?

Veruntreuung öffentlicher Gelder ist in der französischen Politik ein wiederkehrendes Problem - zahlreiche Spitzenpolitiker wurden dafür bereits verurteilt.

Ex-Premierminister Alain Juppé wurde 2004 verurteilt, weil er Parteimitarbeiter zum Schein als städtische Angestellte beschäftigt hatte. Der Konservative wurde zu 18 Monaten Haft auf Bewährung und zehn Jahren Unwählbarkeit verurteilt, die im Berufungsverfahren auf ein Jahr reduziert wurde und erst dann in Kraft trat.

Auch Jérôme Cahuzac, Ex-Haushaltsminister unter dem sozialistischen Präsidenten François Hollande, musste sich 2016 wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder verantworten. Das Urteil: drei Jahre Haft (später auf zwei Jahre mit elektronischer Fußfessel reduziert) und fünf Jahre Politikverbot - ebenfalls erst nach Abschluss des Verfahrens.

François Fillon, Präsidentschaftskandidat der Konservativen 2017, wurde 2020 im "Penelopegate"-Skandal wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder verurteilt: fünf Jahre Haft (davon drei auf Bewährung) und zehn Jahre Politikverbot. Auch hier wurde die später noch reduzierte Strafe nicht sofort vollstreckt.

Premierminister Bayrou hält Regierungserklärung in Nationalversammlung
Premierminister Bayrou: Auch gegen ihn wurde wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder ermitteltBild: Thibault Camus/AP Photo/picture alliance

Wie reagiert die Politik auf das Urteil?

Während sich viele Politiker mit direkter Kritik zurückhalten, ist die Unzufriedenheit über das Urteil und vor allem über die sofortige Unwählbarkeit deutlich spürbar. Justizminister Gérald Darmanin hatte schon vor der Urteilsverkündung vor einer politisch motivierten Justiz gewarnt: "Man kann Le Pen nicht vor Gericht besiegen, man muss sie bei den Wahlen bekämpfen."

Auch Jean-Luc Mélenchon, Gründer der linksradikalen Partei La France Insoumise und langjähriger Gegner Le Pens, äußerte sich kritisch. Er betonte, die Entscheidung über die politische Zukunft eines Mandatsträgers liege beim Volk - und nicht allein bei einem Strafgericht. Gegen Mélenchon selbst wird derzeit wegen Veruntreuung von EU-Geldern ermittelt.

Auch Premierminister François Bayrou zeigte sich nach dem Urteil nachdenklich. In der Nationalversammlung sagte er, es sei legitim, über das Gesetz und seine Anwendung zu diskutieren - unter Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit. Brisant: Bayrou stand auch wegen angeblicher Veruntreuung von EU-Geldern vor Gericht, wurde aber im Februar 2024 in erster Instanz freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft ging in Berufung.

Jean-Luc Mélenchon gibt seine Stimme bei der Parlamentswahl 2024 ab
Auch gegen ihn wird ermittelt: Jean-Luc Mélenchon, Gründer von La France Insoumise Bild: Abdul Saboor/REUTERS

Welche Reformen sind denkbar?

Die unter Präsident Hollande verschärfte Gesetzgebung hat die Zahl der Verurteilungen wegen Veruntreuung in Frankreich in die Höhe schnellen lassen. "Im Jahr 2018 wurde das passive Wahlrecht in 440 Fällen aberkannt, 2022 waren es bereits 8857 Fälle", rechnet Senatspräsident Gérald Larcher der Zeitung "Le Figaro" vor.

Im Zentrum der Reformdebatte steht aber wohl vor allem die exécution provisoire, die Politiker vor einem endgültigen Urteil von Wahlen ausschließt. Erste Überlegungen zielen zum Beispiel darauf ab, die sofortige Unwählbarkeit auf Fälle zu beschränken, in denen eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Ordnung besteht - etwa bei aktiver Korruption im Amt. Im Fall Le Pen sind die entsprechenden Taten allerdings seit 2016 abgeschlossen.

Ein weiterer Vorschlag ist, eine explizite Verhältnismäßigkeitsprüfung gesetzlich vorzuschreiben. Dabei müssten Richter abwägen, inwieweit die exécution provisoire mit dem in Artikel 3 der französischen Verfassung garantierten Wahlrecht vereinbar ist. Der Staatsrechtler Benjamin Morel betont, dass solche Abwägungen bisher oft zu kurz kämen - und gerade im Fall Le Pen dringend nötig gewesen wären.

Wie groß sind die Chancen, dass das Urteil revidiert wird?

Das Urteil selbst - vier Jahre Haft, fünf Jahre Politikverbot - liegt im Rahmen vergleichbarer Verfahren. Die Beweislage gilt als äußerst solide. Auch im Vergleich zu anderen Verfahren, etwa dem Freispruch des heutigen Premierministers Bayrou, sei das Urteil gut begründet, sagt Aurore Gaillet, Professorin für Öffentliches Recht an der Universität Toulouse Capitole. "Parteichef François Bayrou hat keine Anweisungen gegeben, während Marine Le Pen im Zentrum des 'Systems' stand, wie das Gericht in seinem Urteil festgestellt hat", so Gaillet. Eine vollständige Aufhebung der Strafe erscheint daher unwahrscheinlich, eine Reduzierung im Berufungsverfahren durchaus denkbar.

Zugleich, so Gaillet, erinnere das Verfahren an die Bedeutung rechtsstaatlicher Prinzipien – gerade in einem politischen Klima, in dem einzelne Parteien das Urteil zum Anlass nehmen, die Unabhängigkeit der Justiz infrage zu stellen. Die Richter hätten mit ihrer Arbeit vielmehr den Rechtsstaat verteidigt, nicht beschädigt.

Das Pariser Berufungsgericht kündigte in einem ungewöhnlichen Schritt bereits einen Tag nach dem Urteil an, das Verfahren bis Sommer 2026 abschließen zu wollen. Christophe Soulard, Präsident des Kassationsgerichts, sagte dem Radiosender France Info, auch die dritte Instanz könne bis Anfang 2027 entscheiden.

"Aus meiner Sicht ist diese Ankündigung ein strategisch kluger Schritt des Gerichts: Mit einem rechtskräftigen Urteil könnte der demokratische Wahlprozess auf einer klareren und rechtlich gesicherten Grundlage stattfinden", analysiert Charlotte Schmitt-Leonardy, Professorin für Strafrecht an der Universität Bielefeld, die den Prozess intensiv verfolgt hat.

Rein rechtlich könnte Le Pen noch wenige Tage vor dem ersten Wahlgang ihre Kandidatur erklären - vorausgesetzt, sie reicht die nötigen Unterstützungsunterschriften spätestens am vorletzten Freitag vor dem ersten Wahlgang beim Verfassungsrat ein.

Sollte das Urteil der dritten Instanz bereits Anfang 2027 vorliegen, wäre eine mögliche Strategie Le Pens, die Rechtskraft bis nach der Präsidentenwahl hinauszuzögern, zum Scheitern verurteilt.

RN-Parteichef Jordan Bardella mit Marine Le Pen bei einer Wahlkampfveranstaltung
Könnte Präsidentschaftskandidat 2027 werden: RN-Parteichef Jordan BardellaBild: Thomas Padilla/AP/picture alliance/dpa

Plan B(ardella) - Welche Strategie verfolgt der RN?

Für den Fall, dass Le Pen 2027 nicht mehr antreten kann, steht mit Jordan Bardella bereits ein möglicher Nachfolger bereit. Der 29-Jährige führt seit 2022 den Rassemblement National und gilt als enger Vertrauter Le Pens - ist aber intern nicht unumstritten.

Bardella sprach nach dem Urteil von einer "Tyrannei der Richter" und rief zu landesweiten Protesten auf. "Das System hat die Atombombe hervorgeholt, und wenn sie eine so mächtige Waffe gegen uns einsetzen, dann weil wir kurz davor sind, die Wahlen zu gewinnen", ätzte Marine Le Pen in einem TV-Interview nach dem Urteil. Für das kommende Wochenende sind Demonstrationen mehreren Städten in Frankreich geplant, darunter eine Großkundgebung in Paris. Ziel: Das Urteil soll delegitimiert und Le Pen als Opfer eines politischen Prozesses dargestellt werden. Schon jetzt benötigt die Vorsitzende Richterin Personenschutz. 

Der RN verfolgt eine riskante Strategie: Sie mag Empörung und Mobilisierung erzeugen - aber sie untergräbt auch das Vertrauen in die französische Justiz. Dass die RN-Führung diesen Effekt in Kauf nimmt, unterstreicht, wie politisch aufgeladen der Fall geworden ist.