Macrons Visionen: Europa als Führungsmacht
10. April 2025Jahrelang galt Deutschland als führende Nation in der Europäischen Union: wirtschaftlich stark und politisch mächtig mit Dauerkanzlerin Angela Merkel als einer Art Galionsfigur. Doch die Ära Merkel ist längst vorbei und Deutschland - geschwächt durch Corona-Folgen und Ampelbruch - noch ohne neue Regierung.
Die entstandene Lücke blieb nicht leer: Trotz oder vielleicht auch wegen innenpolitischer Querelen in Paris ist Emmanuel Macron der neue europäische Stern auf der politischen Weltbühne. Inmitten der globalen Erschütterungen durch das Agieren der USA unter Donald Trump hat sich Frankreichs Präsident zur wichtigsten Führungspersönlichkeit in Europa entwickelt.
Deutschland mit Regierungsbildung beschäftigt
Deutschland ist derzeit mit sich selbst beschäftigt. In Berlin versuchen die Wahlsieger von Christdemokraten und Christsozialen mit den bisher führenden Sozialdemokraten eine neue Regierung zu bilden. Bundeskanzler Olaf Scholz von der SPD regiert nur noch geschäftsführend. Und ob sein voraussichtlicher Nachfolger Friedrich Merz von der CDU noch vor Ostern ins Amt kommt oder erst viel später, ist nicht klar.
Obwohl sich Scholz und Merz absprechen, um die deutsche Position auf internationalem Parkett abzustimmen, kann die Bundesrepublik derzeit keine kraftvolle Führungsrolle in der EU übernehmen. Und das ausgerechnet in einer Zeit, in der Trumps Zölle und Russlands Angriffskrieg in der Ukraine global zu Verwerfungen führen.
Präsident Macron hält nicht still. Er zählte schon immer zu den am meisten beachteten Staatsoberhäuptern der Welt. In den aktuellen Turbulenzen meldet sich der 47-jährige besonders lautstark zu Wort - als französischer Präsident und auch als Botschafter Europas.
Schnittmenge bei Interessen
"Er hat eine europäische Botschaft", sagt Gesine Weber vom German Marshall Fund. Diese sei zwar mit den Staats- und Regierungschefs der anderen EU-Staaten abgesprochen, so die Sicherheitsexpertin, aber letztendlich sei Macron der Präsident Frankreichs. Aber beide Rollen seien miteinander verknüpft, "weil die meisten europäischen Interessen auch französische Interessen sind und umgekehrt".
Während die meisten europäischen Staats- und Regierungschefs eine Erhöhung der Rüstungsausgaben und eine einheitliche Verteidigung ins Auge fassen, geht Macron noch einen Schritt weiter. Er hat schon vor längerem die Stationierung von europäischen Truppen in der Ukraine ins Gespräch gebracht. Und er hat angeboten, das französische Atomwaffenarsenal zu einem europäischen Schutzschirm auszubauen.
In anderen Bereichen der Außenpolitik versucht Macron, europäische Interessen nach französischem Vorbild voranzutreiben: "Europa ist in den vergangenen fünf Jahren sehr französisch geworden", so Weber. Nach zögerlichem Start stehe er nun in Sachen Ukraine in der EU an der vordersten politischen Front. Und auch im Zollstreit mit den USA versucht der Franzose Europas Taktgeber zu sein.
Von Vorteil ist hier, dass Macron US-Präsident Trump noch aus dessen erster Amtszeit in Washington kennt. "Er war der erste europäische Staats- oder Regierungschef, der in der Lage war, eine Beziehung zu Trump aufzubauen - oder wiederherzustellen", sagt Sicherheitsexpertin Weber.
Macron hat nicht mehr viel Zeit
Dabei gilt Macron eigentlich als "Lame Duck", als Staatsoberhaupt, dessen Amtszeit sich absehbar dem Ende nähert und dessen Macht und Autorität damit langsam schwindet. Die nächste französische Präsidentenwahl steht 2027 an und Macron darf nach zwei Amtszeiten nicht erneut kandidieren. Damit bleiben ihm nur zwei Jahre, um seine Vision für Frankreich und Europa zu verwirklichen.
Jacob Ross, Spezialist für deutsch-französische Beziehungen bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), sagt, Frankreich sei gut positioniert, um Europa durch die aktuell schwierige Zeit zu führen. "Zumindest intellektuell sind die Franzosen in einer sehr guten Position, um die Führung zu übernehmen."
Ross verweist auf Frankreichs traditionelle Haltung, auf Eigenständigkeit zu pochen und für Europa einen größeren Platz in der Welt zu sehen - unabhängig von den USA. Ob dieses Selbstbewusstsein allein reicht, eine europäische Führungsmacht zu werden? Frankreich-Experte Ross hat Zweifel: "Das Land befindet sich in einer so schwierigen Lage, was seine Staatsverschuldung angeht, und es hat nur sehr wenig Spielraum für die Ausweitung der nationalen Haushalte, auch im Bereich der Verteidigung", so seine Einschätzung.
Die Rolle des europäischen Ideengebers habe Macron schon nach Amtsantritt 2017 übernommen, meint Ross. "Jetzt begünstigt das Umfeld seine Position. Aber Frankreich fehlt die materielle Basis, um seinen Anspruch aus eigener Kraft durchzusetzen."
Eine weitere Hürde für Macrons pro-europäische Vision ist der zwar ausgebremste, aber weiter drohende Aufstieg der Rechtspopulistin Marine Le Pen. Sie könnte 2027 nach einem Wahlsieg mit ihrer europakritischen Partei Rassemblement National Macrons Ideen ins Gegenteil verkehren.
Ob eine einzelne Führungspersönlichkeit à la Merkel - nur diesmal aus Frankreich -, Europa zu einer neuen Rolle und mehr Gewicht in der Welt führen kann - daran haben Ross und Weber weifel. Angesichts der protektionistischen America-First-Doktrin von Donald Trump und des Krieges in der Ukraine könnte eher die Stärkung traditioneller Bündnisse die beste Lösung für die Europäer sein: eine deutsch-französische Achse mit einem weiteren mächtigen Verbündeten jenseits des Ärmelkanals - mit Ex-EU-Mitglied Großbritannien.
Adaptiert aus dem Englischen von Arnd Riekmann