Wie lange Kinder an den Bildschirm dürfen
24. August 2025Es ist schon erstaunlich: Es gibt Studien, Untersuchungen und Empfehlungen, aber bis heute gibt es international keine einheitlichen Regeln, wie viel Bildschirmzeit für Kinder in Ordnung ist. Sicherlich hat jedes Kind unterschiedliche Bedürfnisse. Und bis die Wissenschaft genug Daten für eine Empfehlung gesammelt hat, sind Technologien und gesellschaftliche Normalitäten schon längst wieder drei Schritte weiter.
Aber ein paar Grundsätze gibt es, auf die sich Medizinerinnen und Psychologen, Suchtforscherinnen und Medienpädagogen einigen können. Sie sind eng damit verknüpft, was Kinder in der jeweiligen Entwicklungsphase brauchen. Und sie folgen dem Prinzip der Vorsorge: Besser dem wissenschaftlich begründeten Verdacht folgen, dass Handys und Co. Schaden anrichten, als sich nachher zu ärgern.
In den ersten Lebensjahren soll die Welt erkundet werden
“Bildschirmfrei bis drei", so lautet die Kurzformel für die ersten Lebensjahre in Deutschland. “In dieser Lebensphase brauchen und erfassen Kinder Bildschirminhalte noch nicht“, sagt die Kinderärztin Ulrike Gaiser, die die deutsche Medienleitlinie für Kinder mitgeschrieben hat. Die WHO ist weniger streng und empfiehlt Kindern ab dem zweiten Lebensjahr nicht mehr als eine Stunde Bildschirmzeit am Tag. Sie sagt aber auch: Weniger ist besser.
In den ersten ein bis zwei Lebensjahren gehe es darum, dass ein Kind mit seiner Umwelt in Kontakt kommt. In dieser Phase weite das Kind seinen Fokus, so Ulrike Gaiser. Von der Mama zu anderen Menschen, zum Raum, es nimmt plötzlich einen Ball auf der anderen Seite des Zimmers wahr – und beginnt im Raum zu krabbeln. Dafür sei es wichtig, dass ein Kind lernt, seine Aufmerksamkeit selbst zu steuern – und nicht vor etwas gesetzt wird, das die Aufmerksamkeit abzieht.
Kinder sollten außerdem früh lernen, dass es manchmal ein wenig dauert, bis ihre Bedürfnisse befriedigt werden. Dass zwischen Schrei und elterlicher Essenslieferung eben Zeit vergeht. Dass man die Welt nicht mit Wisch oder Knopfdruck gestalten oder verschwinden lassen kann. Warten und Dinge akzeptieren, das sei die Basis fürs Leben, sagt Ulrike Gaiser.
Bildschirme sind Zeiträuber
“Kinder nehmen die Welt anders wahr als Erwachsene“, sagt die Kinderpsychologin Julia Asbrand von der Universität Jena. Das gilt auch für Inhalte von Filmen oder auf Social Media. “Bei sehr jungen Kindern kann alles, was sie sehen, in ihrer Vorstellung echt sein“, erklärt Asbrand. Klar mache das Angst! Als Elternteil sei es gut, innezuhalten und zu fragen: “Was hast du denn da jetzt gesehen?“ Und: “Hast du dazu Fragen?“
Was Expertinnen und Experten am meisten stört: Bildschirmzeit verdrängt Zeit in der Realität. Zeit, in der Kinder ihre Motorik entwickeln. In der sie mit anderen Menschen interagieren und soziale Erfahrungen machen. Neuere Forschung zeigt: Mit jeder Minute am Bildschirm hören Kinder sechs Worte weniger von ihren Eltern. Addiert man das über die Zeit, kommt zum Abi ein hübsches, kleines Lexikon zusammen. Je länger Kinder alleine vor dem Bildschirm sitzen, desto schlechter ist später ihre Sprachfähigkeit. Reduziert man hingegen die Bildschirmzeit von Kindern, verbessern sich Fähigkeiten wie Feinmotorik, Aufmerksamkeit oder soziales Verhalten.
Im Kindergarten geht's um Interaktion und Fantasie
Bevor Kinder in die Schule kommen, gehe es darum, dass sie die Welt erkunden, haptische Erfahrungen machen, sich im Raum orientieren, mit anderen spielen – und zwar mehrere Stunden am Tag, sagt Ulrike Gaiser. Beim Spielen lernen sie auch, dass andere Menschen manchmal andere Ideen haben. Dass man mit ihnen verhandeln, sich durchsetzen oder nachgeben muss. Dass man auch mal scheitert.
Diese Phase sei außerdem wichtig für die Ausbildung von Fantasie. Kinder müssen lernen, die Welt zu erkunden und selbst zu gestalten. Je weniger Gelegenheit Kinder haben, innere Bilder zu erzeugen, desto schwerer fällt es ihnen, fantasievoll zu werden. Deshalb reichen maximal 30 Minuten Screentime in dieser Lebensphase.
Wertevermittlung in der Grundschule
Im Alter zwischen sechs und neun würden Kinder das erste Mal so etwas wie Moral ausbilden, sagt Ulrike Gaiser. “Wollen wir das dem Internet überlassen?“. Es gehe um Fähigkeiten wie Disziplin, Leistung oder Wissen – und ob ich mich aufs eigene Wissen verlassen kann oder nur auf das, was im Internet steht. Die Empfehlung hier lautet in Deutschland: Maximal 30 bis 45 Minuten in der Freizeit. Und bitte begleitet.
Ganz so dogmatisch gelten die Zahlen aber nicht. Klar ist weniger Bildschirmzeit besser. Aber Verabredungen und Mitreden liefen heutzutage nun mal übers Digitale, sagt Kinderpsychologin Asbrand. “Man kauft sich das eine für das andere ein.“ Wenn das Kind - besonders dann in der nächsten Lebensphase - nicht in der WhatsApp-Gruppe der Klasse ist, ist es ausgeschlossen. Das dürfe auch nicht passieren.
Bei Jugendlichen wird es schwieriger, den Inhalt zu begleiten
Fachleute wissen auch: Es ist eine Illusion, Kinder von Handys wegzuhalten. Die Frage ist also stattdessen, wie ein gesunder Mediengebrauch aussieht. In Deutschland empfehlen Mediziner Neun- bis Zwölfjährigen maximal 45 bis 60 Minuten Bildschirmzeit in der Freizeit. Zwischen 12 und 16 Jahren maximal ein bis zwei Stunden, zwischen 16 und 18 Jahren etwa zwei Stunden.
In dieser Zeit der Abnabelung sei es umso wichtiger, interessiert und offen nachzufragen und sich zeigen zu lassen, was die Kinder sich so anschauen, erklärt Julia Asbrand. “Eines der größten Probleme ist, wenn die Kinder Sachen heimlich machen, dann aber zum Beispiel Grooming begegnen, wenn sich also Erwachsene mit Missbrauchsabsicht ihr Vertrauen erschleichen wollen. Kinder trauen sich dann teilweise nicht, das gegenüber ihren Eltern anzusprechen, weil sie wissen: Ich hätte das nicht machen dürfen“.
Nicht alles ist schlecht
“Wir wissen selbst, dass die Zeiten, die wir vorschlagen, kaum einhaltbar sind“, sagt Ulrike Gaiser. Viel wichtiger als die exakte Zeit sei der Inhalt: Was genau gucken sich die Kinder an? Ein Lernspiel für die Schule? Reels aus dem Ukrainekrieg? Katzenvideos? Oder hängt das Kind mit Essstörung gerade zu viel mit digitalen Fitness-Influencern ab? Vor allem: wie geht’s ihm damit?
Aus Perspektive der Suchtforschung sei vor allem wichtig, dass der Konsum nicht zur Gewohnheit werde, sagt Julia Asbrand. Dazu kommt: Jedes Kind ist anders, jedes Medium ist anders, jeder Inhalt ist anders. Harte wissenschaftliche Evidenz gäbe es da einfach nicht.
Ein Verzicht auf digitale Medien wäre weltfremd. "Es gibt fantastische Sachen im Internet!“, sagt Ulrike Gaiser. So können Tablets und Co. in der Schule ein sinnvolles Hilfsmittel sein. Um Sprachen zu lernen, die Peergroup zu finden, eine eigene Stimme zu entwickeln. Im Privaten können soziale Medien helfen, Kontakte zu pflegen, zum Beispiel zu den Großeltern oder dem Vater auf Montage. Sie können auch helfen, Kontakte aufzunehmen: Einer ihrer Patienten, erzählt Ulrike Gaiser, tausche sich online mit einem Polarforscher aus.
Was Eltern tun können
Eltern sollten ihre Kinder, solange es geht, nicht vor dem Bildschirm allein lassen. Über die Mediennutzung sprechen und sich zeigen lassen, was die Kinder anschauen. Eine gute Eltern-Kind-Beziehung, Freiheit oder Vertrauen sei entscheidend. Wie auch das Wissen über mögliche Gefahren, zum Beispiel wie süchtig digitale Medien machen können. Alarmiert sollten Eltern sein, wenn das Kind sich zurückzieht, auf andere Aktivitäten verzichtet, allgemein traurig oder verstimmt ist.
Technisch könne man Unterbrechungen der Plattformen nutzen und und klare Regeln aufstellen, die man auch selber vorlebt. Zum Beispiel: Um acht gehen alle Handys ins Bett. Auch die der Eltern.