"Kiew muss sich nach Europa orientieren"
12. Juni 2003Moskau, 11.6.2003, NESAWISSIMAJA GASETA, russ., Tatjana Iwschenko
Kiew kokettiert mit Moskau und orientiert sich gleichzeitig auf die westlichen Partner. Demzufolge verfolgt die aktive Teilnahme der Ukraine an allen letzten überstaatlichen Wirtschaftsprojekten lediglich ein Ziel, die Aufmerksamkeit des Kremls von den immer engeren Kontakten Kiews zum Westen abzulenken. Darin besteht eigentlich das Wesen der sensationellen Erklärung, die dieser Tage Anatolij Haltschynskyj, die "graue Eminenz" von Präsident Kutschma, in einem Interview für die ukrainische Zeitung "Den" abgab.
Kiewer Quellen behaupten, dass Haltschynskyj nicht nur Berater, sondern auch rechte Hand des ukrainischen Präsidenten sei. Er sei derzeit der einzige Vertreter der Mannschaft, die zusammen mit Kutschma im Jahr 1994 an die Macht kam, der dem Präsidenten nahe stehe. Seit dieser Zeit ist eben Haltschynskyj derjenige, der, wenn es um neue Richtungen der ukrainischen Politik geht, am häufigsten die akutesten strategischen Initiativen der ukrainischen Machtorgane bekanntgibt, um zu sehen, wie auf die neuen Richtungen reagiert wird. Um so mehr, da sich Anatolij Haltschynskyj im Fall der Fälle hinter dem Status eines Wissenschaftlers verstecken kann, da er auch noch Direktor des Institutes für strategische Forschungen und Ratsvorsitzender der Nationalbank der Ukraine ist.
In seinem Interview erklärte Professor Haltschynskyj, dass "Russland sich als Integrationszentrum im postsowjetischen euroasiatischen Raum behaupten möchte und es ihm sehr wichtig ist, die Ukraine da hineinzuziehen, die in diesem Projekt die Funktion der kritischen Masse ausübt".
Eben deshalb würden Russland und die Ukraine den Gedanken über die Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraumes im Rahmen der GUS unterschiedlich aufnehmen. "Die sogenannte abgeschwächte Variante des einheitlichen Wirtschaftsraumes basiert auf Prinzipien einer freien Handelszone. Diese Variante unterstütze ich. Soweit ich verstehe, ist dieser Gedanke auch dem Präsidenten nicht fremd, da er schon immer dafür plädierte, im Rahmen der GUS eine freie Handelszone zu bilden. Wird jedoch die Frage über einen einheitlichen Wirtschaftsraum nach einem Vorschlag der russischen Seite gestellt, so ist hier meiner Meinung nach mehr Politik als Wirtschaft, da es sich um eine Zollunion handelt, eine mögliche Währungsunion, um die Anpassung der gültigen Gesetzgebung", so der Kutschma-Berater. Ein einheitlicher Wirtschaftsraum ist nach Ansicht von Haltschynskyj möglich und zweckmäßig lediglich als freie Handelszone, und auch das ausschließlich auf WTO-Prinzipien und nicht auf der Basis der Integrationsprozesse im Rahmen der GUS. Er übte sogar Kritik am ukrainischen Parlament, das kürzlich den Gedanken über die freie Handelszone im Rahmen der "vier" (Ukraine, Russland, Weißrussland, Kasachstan) unterstützte. Ungeachtet der Tatsache, dass der ukrainische Präsident, wie bekannt, mehrmals davon sprach, wie aussichtsreich diese Integration ist, ist dessen Berater der Ansicht, dass es sich um ein "rein russisches geopolitisches Projekt" handelt, an dem die Ukraine am besten nicht teilnehmen sollte.
Haltschynskyj ist der Ansicht, dass es aussichtsreicher ist, sich nach Europa zu orientieren: "Russland hat keine Aussicht, der EU beizutreten, unser endgültiges Ziel besteht jedoch darin, EU-Mitglied zu werden." Widersprüche in den Ansichten der Ukraine und Russlands sind auch in der Frage über den WTO-Beitritt zu beobachten. Als Wirtschaftswissenschaftler lehnte Haltschynskyj als "Unsinn" den von den Staatsoberhäuptern mehrmals geäußerten Gedanken über den "synchronen Beitritt" ab und erklärte, dass sich die Ukraine bereits im kommenden Jahr diesem Ziel nähern könnte. Zusammen mit Russland würde es dazu nicht so schnell kommen, versuche doch Russland seine Gesetzgebung den europäischen Standards anzupassen, und fordere Kiew auf, sich allmählich dem russischen Modell anzupassen, was das Tempo der ukrainischen europäischen Integration bedeutend bremse.
Indem Anatolij Haltschynskyj einen so unerwarteten Standpunkt äußerte, kam er Fragen über mögliche politische und wirtschaftliche Folgen für Kiew zuvor, das plötzlich zugab, dass es den GUS-Partnern blauen Dunst vormacht und gleichzeitig versucht, ein eigenes Spiel zu spielen. "Der Export ukrainischer Waren in die GUS-Staaten betrug im Jahr 1996 47,6 Prozent, derzeit sind es 23,4 Prozent. Der Export nach Russland betrug entsprechend 39,9 und 17,1 Prozent. Mit der EU waren es 10 Prozent, jetzt liegen wir bei 18,9 Prozent. Berücksichtigt man den Handel mit der EU und den EU-Beitrittskandidaten, so waren es 1996 23 Prozent, jetzt sind es 40,8 Prozent", sagte Haltschynskyj, womit er erklären wollte, dass die Ukraine ohne Russland auskommen wird. In der ukrainischen Wirtschaft würden sich in den letzten Jahren planmäßig alle Branchen entwickeln, die russischen Ersparnisse würden jedoch weiterhin auf dem sehr instabilen "Erdöl-Dollar" basieren. Alles, was dieser Meinung widerspreche, so der ukrainische Präsidentenberater, stamme von russischen Missgönnern, die in der Ukraine "keinen Partner, sondern einen Konkurrenten" sehen.
Wie sich herausstellte, ist auch die Ukraine von der Partnerschaft mit Russland nicht begeistert. Haltschynskyj sagte: "Ich bin sehr vorsichtig, was die Putinsche sogenannte ‚gelenkte Demokratie‘ angeht. Das ist Pseudodemokratie. Vergleicht man unsere Staaten, so kann die Ukraine ihren Platz in der Welt und auch im postsowjetischen Raum meiner festen Überzeugung nach in erster Linie als Zentrum der Demokratie, als demokratischer Staat einnehmen." In der Wirtschaft ist nach Ansicht des Professors der Unterschied zwischen der Ukraine und Russland allein schon deshalb offensichtlich, weil ein Löwenanteil des russischen Kapitals "im Schatten arbeitet": "Alle wissen vom äußerst hohen Anteil des russischen Kapitals an der ukrainischen Wirtschaft. Offiziell beträgt er jedoch 6,5 bis 7 Prozent. Ende des Jahres waren es 330 Millionen Dollar. Der Anteil des EU-Kapitals beträgt jedoch 34 Prozent (1,8 Milliarden Dollar). Wieso ein so großer Unterschied? Weil das russische Kapital hauptsächlich in der Schattenwirtschaft tätig ist. Wir sind natürlich an ausländischem Kapital interessiert, jedoch an solchem, das legal zu uns kommt. Das russische Kapital mehrt nur noch unseren Wirrwarr."
Ukrainische Experten lassen sich nicht auf diese Erklärung ein, heben jedoch vorsichtig hervor, dass alle von der "grauen Eminenz" geäußerten Gedanken zur Grundlage der ukrainischen Politik werden könnten. Womöglich wird Präsident Kutschma bereits beim nächsten GUS-Gipfel, der für den 19. September in Jalta anberaumt ist, sensationelle Änderungen bei den Richtungen und der Orientierung von Kiew bekanntgeben. Wenn der Westen bis dahin nicht ein weiteres Mal sein Verhalten gegenüber Kiew wegen irgend eines neuen Skandals oder irgend welcher Enthüllungen über das Vorgehen der ukrainischen Machthaber verschärft. (lr)