"Keinen Bogen um Europa machen"
7. Juni 2002In letzter Zeit vertreten viele die Ansicht, die immer noch als "neu" bezeichnete bulgarische Regierung mit Ex-König Simeon II. an der Spitze orientiere das Land auf die Einflusssphäre Russlands und auf die russischen Interessen. Nach meiner Meinung ist die Wahrheit eine andere. Die Regierenden richten Bulgarien auf Amerika aus.
Genau so, wie an der Verbesserung der in den letzten Jahren mit oder ohne Grund vernachlässigten Beziehungen mit Russland nichts auszusetzen ist, so ist freilich auch nichts dagegen einzuwenden, dass Bulgarien immer mehr die Nähe der vorerst einzigen Supermacht sucht. Allerdings mit einer Einschränkung: Dies darf nicht auf Kosten unserer Beziehungen mit Europa geschehen.
Simeon Sakskoburggotski hat guten Grund, Hoffnungen in die USA zu setzen und eine Annäherung an die USA anzustreben. Die Vereinigten Staaten spielen die erste Geige in der NATO. Sie haben auch das entscheidende Wort bei der Osterweiterung der Allianz. Und die Aufnahme Bulgariens in die NATO oder zumindest der Erhalt einer Einladung zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen ist vorerst die große Hoffnung der Regierenden. Sie ist eher innenpolitisch als außenpolitisch motiviert, denn ein eventuelles positives Signal von der NATO beim Prager Gipfeltreffen im November würde dem schwindenden Einfluss der Nationalen Bewegung Simeon II. (NDS II), die im Juni vergangenen Jahres die Parlamentswahlen gewonnen hat, einen mächtigen Auftrieb verleihen. Geplagt von schweren innenpolitischen Problemen, hauptsächlich im Wirtschafts- und Sozialbereich, hofft die Regierung, dass eine Einladung zum NATO-Beitritt das Absinken ihrer Popularität stoppen und eine Wende in den politischen Einstellungen im Land einleiten könnte. Nachdem Bulgarien zusammen mit Rumänien von der ersten EU-Beitrittswelle ausgeschlossen wurde, wäre eine Absage von Seiten der NATO tatsächlich ein schwerer psychologischer Schock für den Balkanstaat, der nach der Wende von 1989 einen beschwerlichen Entwicklungsweg zurückgelegt hat. Oder wie es Staatspräsident Georgi Parwanow formulierte: Eine eventuelle Ablehnung der bulgarischen NATO-Kandidatur hätte unvorhersehbare Folgen und könnte sogar zur Formierung extremistischer Kräfte und Strömungen in der Gesellschaft führen. Das Erstaunliche ist, dass Parwanow, bis vor kurzem noch Vorsitzender der BSP (Bulgarische Sozialistische Partei - MD), früher ein Gegner der nordatlantischen Allianz war.
Selbstverständlich resultieren die Bemühungen um eine engere Anlehnung an die USA nicht allein aus dem unüberwindbaren Streben in die NATO. Sicherlich gibt es auch andere offene oder verdeckte Gründe und Motive. Störend an der ganzen Sache ist nur, dass einige Strecken des Weges über den Atlantik absichtlich einen Bogen um Europa machen.
Im Klartext: Simeon Sakskoburggotski ließ die Parlamentarische Versammlung des Europarates, vor der er eine Ansprache als Ehrengast hätte halten sollen, links liegen und flog direkt nach Amerika. Kenner der Flugrouten und des Protokolls behaupten, die Ansprache hätte ohne Weiteres am Vortag gehalten werden können, wie ursprünglich vorgesehen war. Der Premier nahm jedoch direkt Kurs auf die USA, wobei er Europa mehr oder weniger demonstrativ ignorierte. Offenbar haben die europäischen Gastgeber Simeon dies sehr übel genommen, als sie erklären, für ihn sei bis Ende dieses Jahres kein Platz auf der Tagesordnung, und er werde erst im nächsten Jahr vor der Versammlung sprechen können. Dabei werden dort in diesem Jahr die Ministerpräsidenten oder Staatsoberhäupter aller anderen EU-Beitrittskandidaten als Gastredner auftreten. Schon Anfang dieses Jahres war ein anderer geplanter Auftritt des bulgarischen Premiers vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarates geplatzt. Damals wurde dies mit dem Nebel über dem Flughafen von Sofia erklärt. Simeon hatte den Flug für den Morgen angesetzt und wollte seine Ansprache gegen Mittag halten, aber das Wetter spielte ihm einen Streich. So ist es nun einmal, wenn man vor dem Abflug zu einem wichtigen Ereignis keine Zeitreserve eingeplant hat.
Sakskoburggotski ist der erste bulgarische Premierminister, der Washington auf persönliche Einladung des US-Präsidenten besucht hat. Das ist schön und gut, darauf kann Bulgarien nur stolz sein. Der frühere Premier Iwan Kostow weilte zwar im vergangenen Jahr ebenfalls zu Besuch in den USA, doch er war vom Vizepräsidenten eingeladen worden. Daher hatte sein Treffen mit Bush rein protokollarischen Charakter. Simeon und Bush haben hingegen Gespräche miteinander geführt. Bezeichnend ist, dass der Premier nur von einem Kabinettsmitglied, dem Justizminister, begleitet wurde. Es wird behauptet, der Justizminister habe Washington, den entschiedensten Kritiker der Korruption in Bulgarien, davon überzeugen sollen, dass das Land in dieser Richtung bereits viel geleistet habe und dass die Korruption weitgehend eingedämmt worden sei.
Bemerkenswert ist auch, dass das anfängliche Zögern der US-Administration, die im vergangenen Jahr beim Erscheinen des unbekannten Simeon und seiner noch wenig bekannten Bewegung auf der politischen Bühne unschlüssig reagierte, bereits überwunden ist. Mehr noch: Die bulgarischen Regierenden werden von Washington ohne jedwede Vorbehalte akzeptiert.
Bei seinem Besuch in den USA zeigte sich Simeon Sakskoburggotski äußerst redselig bei den Kontakten mit den Journalisten. Nach den Gesprächen mit Schröder im Dezember vergangenen Jahres in Deutschland war dem bulgarischen Ministerpräsidenten kaum eine Äußerung zu entlocken. Nach dem ausführlichen Statement des Bundeskanzlers sagte Simeon nur, er stimme mit seinem Gastgeber voll überein und habe nichts hinzuzufügen, um die Zeit der Journalisten nicht in Anspruch zu nehmen, die ohnehin viel zu tun hätten. Freilich mögen dies nur äußere Eindrücke sein. Wichtiger sind die Fakten.
Die Fakten zeigen, dass in letzter Zeit europäische Firmen absichtlich benachteiligt werden zu Gunsten von Unternehmen aus anderen Ländern. Noch frisch in der Erinnerung ist der Fall mit dem EADS-Konzern (Luft- und Raumfahrtkonzern - MD), an dem deutsche, französische und spanische Firmen beteiligt sind. EADS wurde mit beispielloser Unverfrorenheit vom Geschäft für die Modernisierung der im Bestand der bulgarischen Streitkräfte befindlichen russischen MiG-Flugzeuge eliminiert. Die Ausschreibung gewann der russische Hersteller der Maschinen, der jedoch nicht in der Lage ist, die Kampfjets gemäß den NATO-Standards umzurüsten.
Schon zuvor war in aller Stille der - übrigens ebenfalls ziemlich umstrittene - Plan der früheren Regierung von Iwan Kostow fallen gelassen worden, neue amerikanische Kampfflugzeuge vom Typ F-16 zu beschaffen. Werden Amerikaner nun weniger beleidigt sein, nachdem Europa bei der Ausschreibung für die Instandsetzung der MiGs disqualifiziert wurde? Werden die Amerikaner die Botschaft der Bulgaren nicht folgenderweise interpretieren: Wir wollen eure Flugzeuge nicht, weil sie zu teuer sind, aber auch die Europäer werden unsere Geld nicht kriegen. Dies ist nur eine bescheidene journalistische Vermutung.
Ein weiterer Fakt: Die Ausschreibung für die Modernisierung mehrerer bulgarischer Militärflugplätze hat eine unbekannte kanadische Firma gewonnen, hinter der ein US-Großkonzern steht. Das deutsch-französische Konsortium, Marktführer in der Branche, wurde auf eine erniedrigende Weise ignoriert. Dies geschah derart demonstrativ, dass Frankreich und Deutschland offiziell Protest einlegten.
Unlängst wurde bekannt gegeben, dass bei Belene ein neues Atomkraftwerk gebaut werden soll. Ob es tatsächlich dazu kommt, ist eine andere Frage. Den Amerikanern wurde jedenfalls unmissverständlich signalisiert, dass sie als Investoren willkommen sind. Gleich nach dieser Ankündigung reiste der Energieminister direkt zum Westinghouse-Konzern in die USA (das zeitliche Zusammentreffen der beiden Ereignisse mag freilich ein Zufall gewesen sein). Anschließend wurde mitgeteilt, dass er lediglich über Kernbrennstoff-Lieferungen verhandelt habe. Mit Sicherheit sind aber auch andere Fragen angesprochen worden. Dabei ist die Rivalität zwischen den Europäern und Westinghouse geradezu sprichwörtlich. Die frühere Regierung hat das Problem mit der Modernisierung des existierenden Atomkraftwerks Kosloduj auf salomonische Weise, jedoch recht clever gelöst: Die Aufträge im Wert von mehreren Hundert Millionen US-Dollar wurden unter dem europäischen Konsortium Framatom, den Russen und dem amerikanischen Konzern Westinghouse aufgeteilt. Dies war ein gut überlegter politischer Schachzug. Doch was kommt jetzt auf uns zu? Wie Radio Eriwan sagt: Wir haben das nicht ausprobiert, also haben wir keine Ahnung.
All diese Mutmaßungen lassen zwei Fragen aufkommen. Erstens: Wird die US-Regierung, die bekanntlich vehement für die freie Marktwirtschaft eintritt, die mittelständischen amerikanischen Unternehmer (Westinghouse und derartige Großunternehmen selbstverständlich ausgenommen) dazu bewegen können, in dem weit entfernt liegenden, armen Balkanland zu investieren? Zweitens: Ist den bulgarischen Regierenden bekannt, dass in der NATO auch die bescheidener auftretenden Europäer etwas zu sagen haben, wenngleich sie noch keine Vereinigten Staaten von Europa zustande gebracht haben? (fp)