Judenhass an deutschen Unis: "Tsunami des Antisemitismus"
27. Februar 2025Er wurde Anfang Februar 2024 in Berlin auf der Straße schwer verletzt und krankenhausreif geschlagen - wohl weil Lahav Shapira als Jude an der Universität Stellung im Nahostkonflikt bezog. Eine mutmaßlich antisemitische Attacke. In einigen Wochen, am 8. April, steht vor dem Amtsgericht Tiergarten der Beginn des Prozesses gegen den mutmaßlichen Täter (23) an, einen früheren Kommilitonen Shapiras.
Der Angriff auf Shapira war wohl der dramatischste mutmaßlich antisemitisch motivierte Vorfall in Deutschland seit dem 7. Oktober 2023. Nach dem Terror-Angriff von Hamas-Kämpfern waren israelische Soldaten in den Gaza-Streifen einmarschiert. Seit dem Israel-Hamas-Krieg beklagen jüdische Studierende ein Klima der Angst an deutschen Hochschulen. Sie fühlen sich alleingelassen, fürchten Übergriffe und Einschüchterungen. Die Jüdische Studierenden Union Deutschland (JSUD) und das American Jewish Committee (AJC) Berlin legten dazu einen "Lagebericht Antisemitismus an deutschen Hochschulen" vor.
Hanna Veiler (27) spricht von einem "Tsunami des Antisemitismus" im universitären Raum. Die scheidende Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) verweist auf eine lange Chronologie antisemitischer Vorfälle. Sie nennt auch den brutalen Angriff auf Shapira, zahlreiche Hochschulbesetzungen, "sogenannte propalästinensische Protestcamps" an Universitäten, bei denen gefordert worden sei, Israel solle von der Landkarte verschwinden.
Kaum Forschung zum Thema
Eine "wirklich zentrale Herausforderung" für die JSUD sei es gewesen, dass es kaum Forschung oder Studien zum Antisemitismus an Hochschulen gegeben habe. Deshalb sei der neue Lagebericht so wichtig.
Dabei beinhaltet der 26-seitige Bericht keine neu erfassten Zahlen. Die Autoren verwenden Zahlen des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus Bundesverband (RIAS). Laut Bericht stieg die Zahl antisemitischer Vorfälle mit dem Tatort "Hochschule" von 16 in 2021 und 23 in 2022 auf 151 in 2023. Der Berichtszeitraum endet Ende 2023. Bei der jetzigen Präsentation war auch kein RIAS-Vertreter beteiligt, der neuere Trends hätte erläutern können.
Dennoch sei der Bericht, so Veiler, eine wichtige "Ressource" für jüdische Studentinnen und Studenten. Sie alle müssten sich, ob sie wollten oder nicht, mit dem Thema befassen. "Jüdische Studierende sind in den vergangenen 17 Monaten zu Expertinnen und Experten für Antisemitismus an Hochschulen geworden und mussten es werden." Für manche Studierende habe die schiere Angst, in Universitätsgebäude gehen zu müssen und allein gelassen zu werden, Auswirkungen auf Studienverläufe, vielleicht auch auf die finanzielle Förderung als Student gehabt.
Auch der Direktor des AJC Berlin, Remko Leemhuis, spricht von einer "Explosion" antisemitischer Vorfälle an deutschen Universitäten und Hochschulen seit dem 7. Oktober 2023. Viele jüdische Studierende hätten ihre Uni lange Zeit ganz gemieden.
Juden und Jüdinnen in ganz Deutschland berichten von Angst und Sorgen vor Übergriffen. Der Bericht verdeutlicht, dass es zwar auch Vorfälle, antisemitische Äußerungen oder Einschüchterungen an anderen deutschen Hochschulen gab, dass Berlin aber einen Hotspot bildet. Mehrfach gab es hier zwischenzeitliche Besetzungen von Universitätsgebäuden. Nach Räumung der Gebäude fanden sich meist israelfeindliche und auch antisemitische Graffiti.
Der Bericht formuliert eine Reihe politischer Forderungen. So müssten antisemitisch motivierte Straftaten konsequent strafrechtlich verfolgt werden. Es brauche verpflichtende Fortbildungen zu modernen Formen des Antisemitismus an den Unis. Und klar benannte Ansprechpartner für jüdische Studierende. Antisemitische Veranstaltungen, Gruppierungen und Aktionen auf dem Hochschulgelände müssten unterbunden werden. Zudem gehöre die Arbeitsdefinition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) in die Hochschulverfassungen.
"Durchgreifen keine Selbstverständlichkeit"
Es fehle, meint Veiler, immer noch an Haltung und Rückgrat bei den Hochschul-Leitungen. An der Bereitschaft, Konsequenzen zu ziehen. Durchgreifen sei "keine Selbstverständlichkeit".
Die brutale Attacke auf Lahav Shapira zieht übrigens noch ein weiteres Gerichtsverfahren nach sich, das seit Juni 2024 beim Verwaltungsgericht (VG) Berlin anhängig ist. Dort klagte der Student gegen die FU Berlin.
Im vorigen Sommer zitierte das ZDF-Magazin "frontal" aus der Anklageschrift. Darin heiße es, die Universität habe "keine adäquaten Maßnahmen ergriffen", um die antisemitische Diskriminierung gegen den Kläger, aber auch andere jüdische Studierende zu verhindern oder diese strukturell zu beseitigen. Die FU habe es zugelassen, "dass antisemitische Sprache sich zu Taten konkretisiert hat". Es geht im Kern um einen Verstoß gegen Verpflichtungen aus dem Berliner Hochschulgesetz.
Das mündliche Verfahren liege noch an und sei im Sommer zu erwarten, wie eine Gerichtssprecherin der DW an diesem Donnerstag bestätigte. Vielleicht bringt es mehr Klarheit für jüdische Studierende bei der Frage: Welche Verantwortung haben Hochschulrepräsentanten im Kampf gegen Judenhass? Die Gerichtssprecherin ahnt, dass es eine öffentliche Verhandlung werden wird, die großes Interesse finden dürfte.
An diesem Sonntag wählt die JSUD erneut eine Präsidentin oder einen Präsidenten. Veiler tritt nicht mehr an. Danach plane sie, eine Zeitlang ins Ausland zu gehen. Im Interview mit der Jüdischen Allgemeinen erklärte sie: "Es geht vor allem darum, dass ich Abstand von Deutschland brauche." In den vergangenen zwei Jahren habe sie sich von diesem Land entfremdet.