J.D. Vance bei der MSC: Bröckelnde Wertegemeinschaft
14. Februar 2025Stille breitet sich über den Saal, die Anspannung ist beinahe greifbar, als J.D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz zum Rednerpult schreitet. Nur 48 Stunden zuvor schien die Welt noch eine andere zu sein. Natürlich war den Europäern klar, wie schwierig es werde mit Donald Trump, welche Belastungsprobe für das transatlantische Verhältnis seine zweite US-Präsidentschaft werden würde. Doch das Telefonat zwischen Trump und Kremlchef Wladimir Putin am Mittwochabend hat wahre Schockwellen durch EU und NATO gesandt. Plötzlich greift die Angst um sich, in Gesprächen um die Ukraine und vielleicht sogar bei der Neusortierung der Internationalen Weltordnung völlig an den Rand gedrängt zu werden.
Beinahe flehentlich klingt der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, als er in seiner Eröffnungsrede an den US-Vize direkt adressiert: "Was immer Ihr plant, besprecht es mit uns!" Einsichtig, aber betont selbstbewusst zeigt sich wenig später Ursula von der Leyen, die EU-Kommissionspräsidentin: Europa müsse und werde deutlich mehr Geld für Verteidigung ausgeben, seine Rüstungskapazitäten ausbauen. Aber Europa habe auch schon viel getan. Und nur ein starkes Europa sei auch gut für die USA: "Eine geschlagene Ukraine würde Europa schwächen, aber sie würde auch die Vereinigten Staaten schwächen. Autoritäre Regime auf der ganzen Welt beobachten genau, ob man ungestraft davonkommt, wenn man Nachbarn überfällt und internationale Grenzen verletzt oder ob es eine echte Abschreckung gibt", sagt sie. Deshalb sei es nun so wichtig, "das Richtige" zu tun.
"Was verteidigen wir eigentlich?"
Und nun also: Auftritt Vance. 18 Minuten lang redet der US-Vize, doch um Europas äußere Sicherheit oder die Ukraine geht es kaum. Stattdessen nutzt Vance seinen Auftritt für eine Art Belehrungsstunde in dem, was die Trump-Administration für Demokratie hält. Europa betone immer die gemeinsamen Werte, sagt Vance, aber in den USA mache man sich "Sorgen, welche das überhaupt noch seien". Die größte Bedrohung für Europa sei nicht Russland oder China, sie käme von innen, erklärt Vance: es sei der Rückzug Europas von manchen seiner fundamentalsten Werte.
Als Anzeichen dafür kritisiert er etwa die Annullierung der in seinen Augen völlig legitimen Präsidentschaftswahlen in Rumänien (sie waren wegen festgestellter massiver russischer Einflussnahme vom Obersten Gericht für nichtig erklärt worden), brandmarkt das Verbot in Großbritannien, Abtreibungsgegner in der Nähe von entsprechenden Kliniken demonstrieren zu lassen und verdammt das Ausschließen extremer Parteien vom politischen Prozess. Die Meinungsfreiheit in Europa sei "auf dem Rückzug", so Vance: "Wir wissen gar nicht, was wir in dieser Welt eigentlich verteidigen. Was verteidigen Sie?", fragt Vance in die mehrheitlich eher verstörten Gesichter seiner europäischen Bündnispartner.
Scharfe Kritik an Vance-Rede
"Wir kämpfen auch dafür, dass du gegen uns sein kannst", erwidert der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius später dem US-Vizepräsidenten. Das sei das Selbstverständnis der Bundeswehr und das stehe auch für unsere Demokratie. "Diese Demokratie wurde vom US-Vizepräsidenten für ganz Europa vorhin infrage gestellt. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, vergleicht er Zustände in Teilen Europas mit denen in autoritären Regimen", sagt Pistorius. "Das ist nicht akzeptabel. Und das ist nicht das Europa und nicht die Demokratie, in der ich lebe und in der ich gerade Wahlkampf mache."
Die Rede von Vance sei ein Normenbruch gewesen, erklärt Cathryn Clüver-Ashbrook, Politikwissenschaftlerin der Bertelsmann-Stiftung, gegenüber der DW. "Aber anders, als man ihn erwartet hätte." Normalerweise äußere man sich gegenüber Alliierten in solch einem Rahmen grundsätzlich nicht zu innenpolitischen Fragen. Doch man habe gesehen, "welche Strategien wir erwarten können in der Verdrehung des faktischen, grundsätzlichen und eben auch durch Normen bestimmten Verständnisses dessen, was wir für Demokratie halten", so die ehemalige Leiterin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Sie hat den Auftritt des US-Vize vor Ort verfolgt. "Das erste Drittel der Rede war gespickt mit Verschwörungstheorien, mit Falschinformationen und einer Aufforderung, diese Verdrehungen ernst zu nehmen."
Verformte Normen
Je länger die Rede des US-Vizepräsidenten dauert, desto klarer wird, dass es beim transatlantischen Streit nicht mehr "nur" um die Krisenherde dieser Welt geht, um die Ukraine, den Nahen Osten oder eine faire Lastenteilung. Der Bruch im Verhältnis zwischen den USA und ihren europäischen Partnern ist viel fundamentaler. Jahrzehntelang war die vielbeschworene "Wertegemeinschaft" der ideologische Kitt, der die westliche Welt zusammenhielt. Auf die Verteidigung von Demokratie, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit konnten sich die Bündnispartner in NATO und EU jederzeit berufen. Doch nun werden diese Begrifflichkeiten von Teilen der politischen Elite nicht nur in den USA gekapert, uminterpretiert und neu besetzt. Und dieser Riss zieht sich mitten durch das transatlantische Bündnis.
Wie aber sollen die Europäer mit der neuen Situation umgehen? Ihre Einflussmöglichkeiten müssten jetzt "komplett neu gedacht werden", sagt Cathryn Clüver-Ashbrook. Es werde zunächst einmal darum gehen müssen, sich in die veränderte Perspektive der USA hineinzuversetzen und daraus zu entwickeln, was man Washington anbieten könne, um wieder das Gemeinsame hervorzuheben. Das sei in Trumps erster Amtszeit noch sehr viel einfacher gewesen, weil es da noch Andockungspunkte gegeben habe. "Der Präsident ist jetzt viel abgeschirmter, die Rede von Vance hätte auch Elon Musk schreiben können." Umso wichtiger sei es, in Europa geeint und mit einer Stimme aufzutreten.
Chinesische Charmeoffensive
Beistand für Trumps europäische Bündnispartner kommt danach aus einer eher unerwarteten Ecke. Direkt nach der kontroversen Rede von J.D. Vance folgt ein Auftritt von Chinas Außenminister Wang Yi, der dem alten Kontinent gegenüber deutlich versöhnlichere Töne anschlägt. Er sehe Europa und China als "Partner, nicht als Rivalen". Für Peking sei die EU "schon immer ein bedeutender Pol in der multipolaren Welt gewesen". Man "müsse das UN-geführte internationale System bewahren", so Wang. Und Europa spiele eine "wichtige Rolle" im Ukraine-Friedensprozess.
Spätestens nach diesem denkwürdigen ersten Tag der Münchner Sicherheitskonferenz steht fest: Das globale Machtgefüge steht vor massiven Umwälzungen. Und deren Ausgang ist ungewisser denn je.