Antisemitismus: Vorfälle in Deutschland nehmen stark zu
4. Juni 2025"Eine Jüdin und Mutter von zwei Kindern drückte die Folgen für ihren Alltag mir gegenüber vor wenigen Monaten folgendermaßen aus: Alle Strategien im Umgang mit Antisemitismus im Alltag, die wir uns überlegt hatten, funktionieren seit dem 7. Oktober 2023 so nicht mehr", erzählt Benjamin Steinitz, Geschäftsführer von RIAS, der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus, bei der Vorstellung des Jahresberichtes der Organisation in Berlin.
8627 antisemitische Vorfälle erfassten die RIAS-Meldestellen insgesamt im vergangenen Jahr. Der Anstieg von 77 Prozent im Vergleich zu 2023 ist besorgniserregend: Vor zwei Jahren gab es noch durchschnittlich 13 antisemitische Vorfälle pro Tag, 2024 waren es knapp 24 - fast das doppelte. Seit dem Terrorangriff der palästinensischen militant-islamistischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem folgenden Krieg in Gaza sind antisemitische Vorfälle in Deutschland massiv in die Höhe geschnellt.
"Mit dem anhaltenden Krieg in Gaza und dem unerträglichen Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung ist die Unterstützung für das Vorgehen der israelischen Regierung auch hierzulande erodiert", sagt Steinitz. Die traurige Konsequenz: "Nie zuvor wurden uns in einem Kalenderjahr mehr antisemitische Vorfälle auf der Straße, in Bildungseinrichtungen, an Gedenkorten oder dem Internet bekannt als im Jahr 2024."
Auch Attacken auf Einzelpersonen steigen an
Die Zahl antisemitischer Vorfälle gegen jüdische oder israelische Einzelpersonen von Angesicht zu Angesicht ist auf 1309 stark angestiegen. So wie im Dezember in Sachsen, als eine Frau auf ihrem Smartphone Nachrichten auf Hebräisch las und daraufhin von einer Gruppe beleidigt und mit "Sieg Heil"- Rufen bedroht wurde. Für die Betroffenen seien solche Ereignisse besonders bedrohlich.
"Die Gefahr, als Jude und Jüdin in Deutschland angefeindet zu werden, hat sich seit dem 7. Oktober oft objektiv erhöht, und dennoch scheinen Debatten darüber, was als antisemitische Äußerung gilt, einen größeren Raum einzunehmen als die Empathie mit den Betroffenen", kritisiert Steinitz.
Solidarisch mit den Betroffenen von Antisemitismus und den israelischen Opfern des 7. Oktober zu sein, stehe nicht im Widerspruch damit, "Anteil zu nehmen an der Situation der Menschen in Gaza und auch die israelische Regierung für ihr Vorgehen zu kritisieren."
Die RIAS-Meldestellen für Antisemitismus erfassten auch acht Fälle von extremer Gewalt im vergangenen Jahr. So wie am 5.September 2024 in München, dem Jahrestag des Olympia-Attentats von 1972, als ein mutmaßlicher Islamist mehrfach auf das israelische Generalkonsulat und das NS-Dokumentationszentrum schoss. Zwei Personen erlitten leichte Verletzungen durch ein Knalltrauma. Der 18-jährige österreichische Täter wurde bei einem Schusswechsel mit der Polizei tödlich verletzt.
"Kampf gegen Antisemitismus gesamtgesellschaftliche Aufgabe"
"Hass gegen Jüdinnen und Juden in Deutschland hat sich auf einem beschämenden Niveau normalisiert", sagt Felix Klein, seit 2018 Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus. Die Vorfälle beträfen alle Lebensbereiche. "In der Hochschule, wo es Schmierereien gibt und antisemitische Aufkleber verteilt werden, auf Demonstrationen, wo das Verhalten von Israel mit dem der Nazis verglichen wird, und bei Frauen, die als 'Judenschlampen' beleidigt werden."
Die Bekämpfung des Hasses gegen Jüdinnen und Juden sei ein Querschnittsthema, so Klein. Ein punktueller Ansatz sei nicht ausreichend. Stattdessen müsse man den Kampf gegen Antisemitismus als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstehen. Er kritisiert "die kollektive Inhaftungnahme von dem, was im Gazastreifen passiert. Jüdinnen und Juden sollen sich dann auf einmal erklären, was da passiert, obwohl sie deutsche Staatsbürger sind."
Unsicherheitsgefühl bei jüdischen Studierenden
Zu den aufsehenerregendsten antisemitischen Gewalttaten im vergangenen Jahr gehörte der Fall des jüdischen Studenten Lahav Shapira, der Anfang Februar beim Verlassen einer Bar in Berlin brutal zusammengeschlagen und mit mehreren Brüchen im Gesicht operiert werden musste. Der Täter, ein damaliger Kommilitone, wurde später zu drei Jahren Haft verurteilt.
Ron Dekel, Präsident der Jüdischen Studierendenunion Deutschland, sagt: "Viele jüdische Studierende fühlen sich an den Hochschulen nicht mehr sicher, und das ist keine leere Floskel." Dekel fordert deswegen Antisemitismusbeauftragte an allen Hochschulen, Vorfälle müssten gemeldet, aufgearbeitet und verfolgt werden. "Es geht darum, dass wir unser Studium nicht nach Sicherheitsbedenken, sondern nach Interesse gestalten können. Universitäten müssen endlich aufhören, Antisemitismus zu dulden, ein Wegducken darf es nicht mehr geben."
Massiver Anstieg auch im Netz, an Schulen und mit rechtsextremem Hintergrund
Der Jahresbericht dokumentiert auch einen Rekordanstieg von fast 2000 antisemitischen Äußerungen im Netz, fast jeder vierte gemeldete Vorfall geschieht also online: via E-Mails, Nachrichten über Messengerdienste oder auch Kommentare auf Social-Media-Plattformen. Mit 544 Vorfällen verzeichnete RIAS ebenfalls die bisher höchste Anzahl antisemitischer Vorfälle mit einem rechtsextremen Hintergrund. An Schulen nahmen die antisemitischen Vorfälle mit 284 Meldungen ebenfalls massiv zu.
Bei der Vorstellung des Jahresberichtes wies RIAS-Geschäftsführer Steinitz auch die Kritik an seiner Organisation durch den israelischen Journalisten Itay Mashiach zurück. Dieser hatte RIAS in einer Studie vorgeworfen, sie würde "antisemitische Vorfälle überdramatisieren" und den Begriff "israelbezogenen Antisemitismus" zu weit auslegen. Steinitz forderte abschließend, Gesetzeslücken zu schließen: "Ein Verbot von Aufrufen zur Vernichtung eines UN-Mitgliedstaates und eine Reform des Volksverhetzungsparagrafen, welche antisemitische und rassistische Zuschreibungen benennt."